Philosophischer Alltag:Klirrende Fahnen

Philosophischer Alltag: Friedrich Hölderlin, "Gedichte", Reclam-Band Nr. 18242, ca. 5 Euro.

Friedrich Hölderlin, "Gedichte", Reclam-Band Nr. 18242, ca. 5 Euro.

Sollte man im Jahr 2015, im Zeitalter von Instagram, Snapchat und Whatsapp wirklich noch den Dichter Hölderlin lesen? Ein schwieriges Experiment - zumindest für jemanden "mit seichtem Herzen und eingeschränktem Geiste".

Von Martin Zips

Im Herbst wird dem Orientalisten Navid Kermani der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen. Kermani ist ein angesehener deutsch-iranischer Intellektueller, man sollte zuhören, wenn er etwas zu sagen hat. Kürzlich haben wir ihn einmal sagen hören, dass er es bedauere, dass heute an den Schulen kaum noch Hölderlin gelesen werde. Da haben wir uns einfach mal Hölderlin gekauft, für den "Philosophischen Alltag".

War überhaupt nicht leicht zu finden. In vielen kleineren Buchläden gab's nämlich gar nichts von Hölderlin. Aber in einem Wiener Großbuchladen, da entdeckten wir ihn als Reclam-Heftchen. Direkt neben der Abteilung "Freche Frauen".

Friedrich Hölderlin lebte von 1770 bis 1843. Dichter, Denker, Philosoph. Ausgesprochen schwierig zu lesen. Deshalb erst mal Biografisches: "Gewirre" nennt er die Welt da draußen. Er traut ihr nicht. Erst starb sein Vater, dann sein Stiefvater. Mit 14 Jahren schrieb er ein erstes Gedicht. Was schon der junge Hölderlin am meisten fürchtet: In "menschenhassenden Trübsinn" zu verfallen. Sehr sympathisch.

Auf Wunsch der Mutter studiert er Theologie; er zweifelt an der Kirche, arbeitet als Erzieher, Poet und Schriftsteller. Hölderlin verliebt sich in Susette, eine freche Frau. Die Liebe verläuft leidenschaftlich unglücklich. Der Trübsinn, die Frauen, das Gewirre - all das setzt ihm zu. Er stirbt, wahnsinnig, im Haus eines Tübinger Schreinermeisters, der ihn gnädigerweise aufgenommen hatte. Dieser Hölderlinturm war schon zu seinen Lebzeiten ein beliebtes Ausflugsziel.

Die grundsätzliche Frage: Muss man sich - gerade als junger Mensch - in der Welt von Instagram, Snapchat und Whatsapp tatsächlich noch die Mühe machen, diese schwierigen Gedichte zu durchsteigen? Gedichte, für deren Verständnis man sich erst durch ein Meer von Fußnoten blättern muss, um die biblischen und mythologischen Anspielungen zumindest ansatzweise zu verstehen? "Stachel des Gottes", "Geheimnisse des Weinstocks", "drum an den Isthmos kommt"?

Beim Lesen der holprigen Metren, das muss der Alltagsphilosoph an dieser Stelle ganz offen zugeben, kriegt er Schweißausbrüche. Ein Gefühl wie damals im Deutschunterricht. Mit Wilhelm Busch, Eugen Roth und Joachim Ringelnatz konnte der Alltagsphilosoph ja was anfangen, den Erlkönig konnte er auswendig aufsagen, den Zauberlehrling auch und bei Gottfried Benn empfand er seltsamen Grusel. Aber was würde Hölderlin dazu sagen? "Es ist recht sehr leicht, glüklich zu seyn mit seichtem Herzen und eingeschränktem Geiste" ("Hyperion")?

Hölderlin im Jahr 2015. Ein schwieriges Experiment. Nach zwei Tagen intensiven Studiums sieht sich der Alltagsphilosoph zeitweise schon selbst im Hölderlinturm, befallen von Trübsinn und Verzweiflung. Doch hat er längst nicht aufgegeben! "Die Mauern stehn / Sprachlos und kalt, im Winde / Klirren die Fahnen." Schön. Lohnt sich also. Und nächstes Mal vielleicht mal was aus der Abteilung "Freche Frauen". Oder so.

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