Philosophischer Alltag:Das zerspringende Herz

Jeannette Hagen "Die leblose Gesellschaft"

"Vielleicht bin ich eine Weltretteridiotin. Vielleicht aber jemand, dem das Herz zerspringt, wenn er sieht, wie wir diese Kinder im Stich lassen", schreibt Jeannette Hagen in "Die Leblose Gesellschaft" (Europaverlag).

(Foto: Europa Verlag)

Jeannette Hagen ist Autorin, Coach - und war Flüchtlingshelferin auf Lesbos und in Idomeni. Sie hat ein sehr emotionales Buch darüber geschrieben, warum sich so viele Menschen nicht vom Leid der Flüchtlinge berühren lassen.

Von Lars Langenau

Was würden Sie tun, wenn Sie einen Ertrinkenden sehen? Ganz nah und analog, nicht im Fernsehen oder auf dem Laptop? Ohne Zweifel würden Sie ihn retten oder so schnell wie möglich Hilfe holen. Ihnen wäre völlig egal, woher dieser Mensch kommt.

2016 starben weltweit bislang mindestens 5238 Migranten auf dem Weg zu ihrem Zielort, allein 3930 Menschen auf dem Weg übers Mittelmeer in Richtung EU. Weshalb schauen wir da weg? Das ist die zentralen Frage in dem Buch "Die Leblose Gesellschaft. Warum wir nicht mehr fühlen können" der Berliner Autorin Jeannette Hagen.

Eigentlich müsste es die "Lieblose Gesellschaft" heißen, denn genau darum geht es ihr auf 187 Seiten, indem sie die Ursachen der Gefühllosigkeit analysiert mit der der Westen auf die weltweite Flüchtlingsbewegung reagiert. Engagiert wirbt sie für den Ausbruch aus dem Hamsterrad der "Angst, Gleichgültigkeit, Abgestumpftheit, Bequemlichkeit, Apathie" und zeigt, dass sich unsere Welt verändern wird. So oder so. Ihre These: Europa müsse die Veränderungen annehmen, statt Mauern zu errichten.

Für Hagen lügen wir uns in die Tasche, "wenn wir glauben, dass wir folgenlos Staaten zerstören und ausbeuten können. Früher oder später begeben sich die Menschen auf den Weg. Zu Recht." Denn alles sei besser als der Tod. Warum aber die Feindschaft gegen Schutzsuchende? Weil wir gelernt hätten, dass uns die Probleme der anderen nichts angehen und uns bereits als Kinder die Angst vor dem Fremden beigebracht worden sei.

Sie besuchte Flüchtlingslager in Idomeni und auf Lesbos und half. Für ihr Engagement wurde sie auf Facebook heftig angegriffen. "Gutmenschenschlampe" war noch eine der harmlosesten Beleidigungen. "Ich schaue mir das inzwischen nur noch kurz an und entferne diese Leute aus meinen Freundeslisten", sagt sie im Gespräch. Hagen hat ein sehr emotionales Buch geschrieben, in dem sie offen ihre Verzweiflung, Empörung und Traurigkeit zeigt. Ihr Buch ist ein Plädoyer dagegen, dass der Kopf das Herz dominiert. Politische Antworten bietet sie kaum, stattdessen wirbt sie für Empathie und Mitgefühl als Säulen unseres Seins. "Menschen, die geliebt werden und wirklich lieben können, vollbringen keine Gewalttaten", behauptet sie. "Wir haben die Möglichkeit, zu gestalten. Wir können uns jeden Tag, jede Stunde, jede Minute dafür entscheiden, etwas anders zu machen. Etwas besser zu machen."

Phasenweise liest sich ihr Buch wie ein radikaler Gegenentwurf zu den Denkschulen der Logik von Aristoteles über Cicero bis zu Leibniz und Kant. Nur: Wir handeln nicht immer rational, sondern oft genug intuitiv. Und wie die Lebenserfahrung zeigt: So schlecht fahren wir nicht mit unserem Bauchgefühl. Und intuitiv würden Sie ja auch ins Wasser springen und einen Ertrinkenden retten.

Bei einer Lesung von Jeannette Hagen meldete sich eine Frau zu Wort und wünschte sich, sie als Gast in der Talkshow von Anne Will zu sehen. Als Stimme der Menschlichkeit. Eine charmante Idee.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: