Pharmaindustrie in Frankreich:Tödliche Diät

Nach dem Skandal um die Schlankmacher-Pille Mediator verschärft Paris nun die Aufsicht über den Pharma-Markt. Wie viele Menschen kamen durch das Medikament ums Leben?

Stefan Ulrich

Präsident Nicolas Sarkozy hat "völlige Transparenz" zugesagt im Skandal um die fatale Schlankmacher-Pille Mediator. Nun beeilt sich die französische Arzneimittelaufsicht, das Versprechen einzulösen. Sie stellte am Montag eine Liste mit 77 Medikamenten vor, die im Verdacht stehen, mehr Schaden als Nutzen zu bringen.

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Steht im Verdacht, mehr Schaden als Nutzen zu bringen: Das Diabetiker-Medikament Mediator.

(Foto: AFP)

Die Liste reicht von einer "Pille danach" über ein gefäßweitendes Mittel bis zu einem Meningitis-Impfstoff. Mehr Transparenz kann die Veröffentlichung gewiss bewirken. Die Frage ist nur, welchen Effekt es auf die Patienten hat, wenn sie erfahren, dass Dutzende heute zugelassener Arzneien womöglich morgen verboten werden müssen.

Als Meinungsforscher unlängst herausfanden, die Franzosen seien das pessimistischste Volk der Welt, fragten sich viele, warum. Der Mediator-Skandal enthält eine Antwort. Er legt nahe, dass das französische Pharmasystem an einer gefährlichen Verquickung medizinischer, wirtschaftlicher und politischer Interessen leidet; und dass solche Interessenkonflikte zum Schaden der Bürger symptomatisch für die Republik sind.

Mediator war 1976 von Servier, dem zweitgrößten Pharmakonzern des Landes, für übergewichtige Diabetiker auf den Markt gebracht worden. Meist wurde es als Schlankmacher verschrieben - für Millionen Franzosen. Erst im November 2009 untersagte die Pharmaaufsicht das Mittel, das zu Bluthochdruck führen und die Herzklappen schädigen kann. Damals hieß es, womöglich seien Hunderte Patienten an Nebenwirkungen gestorben. Heute befürchtet das Gesundheitsministerium, 2000 Menschen könnten Opfer von Mediator geworden sein.

Die Franzosen schockiert besonders, dass die Gefahr seit langem bekannt war, ohne dass dies Konsequenzen gehabt hätte. Die staatliche Inspektionsbehörde Igas kritisierte jetzt, es habe seit Mitte der neunziger Jahre viele Warnungen vor Mediator gegeben. Während Deutschland das Medikament nie zuließ und andere Staaten es wieder verboten, habe es die Firma Servier durchgesetzt, es in Frankreich, als Diabetes-Mittel ausgewiesen, weiter verkaufen zu dürfen. Das Unternehmen habe Kontrollinstanzen "eingelullt" und "reingelegt". Die Pharmaaufsicht habe versagt und eine "unverständliche Toleranz" gezeigt.

Pharmakritiker beklagen, wie unbekümmert Experten zwischen Jobs in der Industrie und in Aufsichtsgremien wechselten. Zudem arbeiteten frühere Minister und Abgeordnete als Lobbyisten für Servier. Firmenchef und Milliardär Jacques Servier, 88, muss nächste Woche vor Gericht erscheinen. Viele Mediator-Patienten haben ihn und den Konzern wegen Betrugs, Vergiftung und fahrlässiger Tötung verklagt. Vorige Woche hat zudem ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss die Arbeit aufgenommen. Außerdem hat Sarkozy den Chirurgen Bernard Debré mit der Aufklärung beauftragt. Mediator sei ein Verbrechen Jacques Serviers, sagt Debré. "Weil er gelogen und Experten bezahlt hat."

Die Regierung verspricht, einen Opferfonds einzurichten und das Pharmasystem zu reformieren. Neue Medikamente sollen nur noch zugelassen werden, wenn sie wirksamer sind als vorhandene. Zudem soll künftig die Pharmaindustrie beweisen, dass ihre Arzneien unschädlich sind. Bisher lag die Beweislast bei der Zulassungsbehörde. Gesundheitsminister Xavier Bertrand verspricht: "Im Zweifel soll für die Patienten entschieden werden, nicht für die Pharmaindustrie." Ein guter Vorsatz, der für die Mediator-Opfer zu spät kommt.

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