Pflegeheime:Die organisierte Entwürdigung der Alten

Fixiert, hungrig, totgepflegt - der Umgang der Gesellschaft mit den alten und dementen Menschen ist grausam und beschämend.

Heribert Prantl

Es war in der Zeit, in der die Zahnärzte noch Dentisten hießen und sich noch nicht jeder Deutsche die dritten Zähne leisten konnte: Wenn meine Tanten damals der Großmutter ihre neugeborenen Enkelkinder präsentierten, dachte die alte Frau anschließend über eine anthropobiologische Frage nach:

Wie es denn komme, so sinnierte sie, dass man gemeinhin die kleinen Kinder ohne Zähne als possierlich, die zahnlosen Alten aber als hässlich betrachte?

Die Zahnlosigkeit der Alten akzeptierte sie unter Bezugnahme auf das Bibelwort "wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, könnt ihr nicht ins Himmelreich eingehen" als eschatologische Notwendigkeit; und so war, theologisch höchst fragwürdig, aber für meine Großmutter sehr befriedigend, der körperliche Verfall erklärt und eingebettet in die Volksfrömmigkeit.

Selten so gescheitert

Großmutter ist, nach einem Leben in der Großfamilie, 1962 gestorben. Sie war 77. Seitdem sind bekanntlich immer mehr Menschen immer älter geworden.

Die Rückentwicklung alter Menschen zum Säugling (meist ohne dessen Zufriedenheit) hat es immer gegeben, aber nie in dieser Zahl und für so lange Jahre. Das gilt der Gesellschaft offenbar als eine natürliche Schuld, die Sanktionen nach sich ziehen muss - welche in Alten- und Pflegeheimen vollzogen werden.

Die Einbettung und Erklärung der bisweilen grausigen Zustände, die in viel zu vielen dieser Alten- und Pflegeheime herrschen, gelingt nur einem solchen Zynismus - einem Zynismus, der das Fesseln an Bett und Stuhl, Fixierung genannt, als Bestrafung der Alten dafür betrachtet, dass sie so lange leben; aus dieser zynischen Sicht wird das Windeln der alten Menschen, auch wenn sie noch selbst zur Toilette gehen könnten, zu einem Akt der Generalprävention, das Hungern- und das Durstenlassen wird zu einem Akt der Spezialprävention; und das Foto von der alten Frau, die nackt auf einem Toilettenstuhl sitzt, das Essen vor sich auf dem hochgeklappten Tischchen, wird zu einem Werbeplakat für die Sterbehilfe.

Die organisierte Entwürdigung der Alten ist nicht die Regel, aber auch nicht die Ausnahme. Der neue Bericht des Medizinischen Dienstes der Spitzenverbände der Krankenkassen (MDS) über die Situation in der Pflege spiegelt den Umgang der Gesellschaft mit den ganz alten und den dementen Menschen - er ist beschämend; verglichen mit früheren Berichten hat sich nicht viel zum Bessern geändert.

Zwei von drei Altenpflegern würden es ablehnen, in dem Heim zu leben, in dem sie arbeiten. Vorbildliche Heime gibt es viel zu wenige, und die Suche nach ihnen gleicht einem Lottospiel. Es gibt keine offiziellen Kriterien für die Qualität von Heimen, es gibt keine gesetzliche Pflicht für die Träger, Qualitätsberichte und Bilanzen zu veröffentlichen.

Was wäre eigentlich los, wenn kleine Kinder per Nasensonde ernährt würden, weil das Füttern zu lang dauert? Was wäre, wenn kleine Kinder in der Krippe regelmäßig gefesselt würden? Was wäre los, wenn sich ein so gefesseltes Kind zu Tode strangulierte, weil das Betreuungspersonal die Gurte falsch angelegt hat?

Der Hort würde umgehend geschlossen, das Personal angeklagt. Wenn hingegen Alte so malträtiert werden, herrscht Nachsicht - weil, wie es gern heißt, dieses Leben ja kein Leben mehr gewesen sei.

Auf diese Weise wird der Artikel 1 des Grundgesetzes, der die Würde des Menschen für unantastbar erklärt, insgeheim mit einem Zusatz versehen: " ... es sei denn, er ist altersdement oder hat Parkinson".

Qualvoller Tod im Pflegebett

Die Rechtsmedizinerin Andrea Berzlanovich hat unlängst nachgewiesen, dass alte Menschen durch mechanische Fixierungen, durch Gurte und Bettgitter, qualvoll zu Tode kommen. Von 33 untersuchten Pflegepatienten, deren Todesursache zunächst unklar war, kamen 28 durch die Fixierung ums Leben.

Die organisierte Entwürdigung der Alten

Noch leben zwei Drittel der Pflegebedürftigen zu Hause. Ohne die Familien, die sich kümmern, wäre die Pflegeversicherung bankrott. Wer die Pflege in der Familie nicht selber erlebt hat, hat wenig Ahnung davon, was dieses "Kümmern" bedeutet; früher hat man "Aufopferung" gesagt.

Eine bezahlbare Haus-Betreuung durch Fachkräfte gibt es nicht - sie würde zehntausend Euro im Monat kosten: Für eine 24 Stunden-Rundum-Betreuung bräuchte man offiziell drei examinierte Pflegerinnen, die 45,50 Euro die Stunde kosten.

Die Pflegeversicherung deckt nur einen Bruchteil der Kosten, für die höchste Pflegestufe zahlt sie 1432 Euro. Selbst Ärzte empfehlen daher die Schwarz- und die Grauarbeit - Pflegerinnen aus Rumänien oder Polen: Hunderttausend sollen es schon sein, wahrscheinlich sind es erheblich mehr.

Als Haushaltshilfen dürfen die Frauen aus Osteuropa offiziell bei Pflegebedürftigen arbeiten, und zwar 38,5 Stunden in der Woche. Sie sind dann krankenversichert, dürfen aber offiziell nur putzen, waschen und kochen, aber nicht pflegen.

Im Jahr 2050 werden in Deutschland fast vier Millionen Menschen pflegebedürftig sein. Wie soll dann funktionieren, was schon heute, bei knapp halb so hohen Zahlen, nicht funktioniert? Wie werden die Altenheime ausschauen?

Alte werden heute dort oft "in die Betten" gepflegt, weil eine hohe Pflegestufe einem Heim mehr Geld einbringt. Das geltende Pflegestufen-System belohnt die Heime nicht für Prophylaxe und Therapie, sondern für Wundliege-Geschwüre mit mehr Geld; und es bestraft die Verbesserung der Gesundheit mit Rückstufung.

Vor gut 15 Jahren trat das sogenannte Betreuungsrecht in Kraft. Es war das richtige Signal zur richtigen Zeit, es war ein Gesetz für die Menschen, die keine lautstarke Lobby haben: Es schaffte die Entmündigung ab, die eine juristische Entsorgung alter und schwacher Menschen gewesen war. Die Entmündigung hatte Menschen, die ein Leben in Pflichterfüllung gelebt hatten, aus dem Rechtsverkehr gezogen; nicht einmal mehr über Taschengeld durften sie verfügen, denn das Gesetz machte selbst den Kauf von Kaffee und Kuchen unwirksam.

Und das Unglück solche Menschen wurde als amtliche Bekanntmachung in der Zeitung inseriert.

Die organisierte Entwürdigung der Alten

Das neue Recht vom 1. Januar 1992 wollte solche rechtliche Geringschätzung beenden, es gab den Richtern auf, in jedem Einzelfall für die spezifische Erkrankung eine individuelle Betreuungslösung zu finden. Es sollte ein Leuchtturm-Gesetz sein - den Weg nicht zum Vor-Friedhof, sondern zu einem würdigen Leben im Alter weisen.

Selten ist ein Gesetz so hymnisch gelobt worden - und selten ist ein Gesetz so grandios gescheitert. Es war und ist zu justiz-zentriert; es stellte und stellt die rechtliche über die persönliche Betreuung; es krankt daran, dass es alte, verwirrte und psychisch kranke Menschen mit Paragraphen streicheln will.

Und vor allem: Das Gesetz war und ist der Politik zu teuer; daher ist es ist kaputtgespart worden. Es fordert zwar professionelle Betreuung; die "Betreuungsvereine", die diese Betreuung unter anderem leisten sollen, werden aber nur unzureichend alimentiert. So hat sich der Geist des Gesetzes nicht entfalten können, sondern siecht selbst dahin.

Alpha ohne Omega: Die Zuwendung, die die Politik neuerdings den Kindern intensiver als bisher zuteil werden lässt, wird den hilflosen Alten verweigert.

Es ist ja richtig, dass Kinder "die Zukunft" sind, und dass die Investition in ihre Betreuung auch eine Investition in gesellschaftliche und ökonomische Leistungsfähigkeit darstellt.

Es macht sich Angst breit

Es ist aber auch richtig, dass der mangelnde Respekt vor dem, was die Alten als Basis geschaffen haben, dass die Missachtung des Anspruchs der Alten, würdevoll ihre letzten Lebensjahre zu verbringen, die Solidarität der Gesellschaft bröckeln lässt.

Es geht das Grundvertrauen verloren, gesellschaftliche Hilfe dann zu bekommen, wenn man ihrer bedarf. Dieses Grundvertrauen verschwindet auch bei denen, die ihren Lebtag lang selbst zum Gelingen des Ganzen beigetragen haben.

Es macht sich Angst breit, Lebensangst - und die ist kein guter Boden für eine gedeihliche Zukunft. Der Respekt vor den Alten und der Respekt vor den Kindern gehören zusammen. Er ist die Klammer, die das ganze Leben umspannt.

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