Outdoor-Sport:Der Schmerz ist das Ziel

Outdoor Bike

Ein großartiger Tag: Extrem-Radler in den Schweizer Alpen.

(Foto: AFP)

Die Verklärung ihrer Leiden schützt Outdoor-Sportler vor unangenehmen Einsichten und vorzeitigem Aufgeben. Warum sonst sollten sich vernünftige Menschen freiwillig auf Gewalttouren in der Natur quälen?

Von Sebastian Herrmann

Ein Morgen im Sommer in den Bergen. Aufbruch im Tal, bei Regen. Ach was, von wegen Regen: Der Start in den Tag findet während eines Weltuntergangs statt. Der Himmel ist sintflutschwarz, der Regen strömt, es ist kalt und nicht ein winziger Streifen am Horizont unterstützt die Hoffnung, dass es irgendwann wärmer, trockener und sonniger werden könnte. Die Tagesetappe dieser Alpenüberquerung mit dem Mountainbike verspricht auch noch die längste Auffahrt der Tour. 2400 Höhenmeter am Stück hinauf bis zum Pass. Erst Asphalt und Regen, dann Schotter und Regen, schließlich Geröll und Schnee. Jeder Tritt in die Pedale wird von Selbstmitleid und Selbsthass begleitet. Was soll der Quatsch? Wer hat sich so etwas ausgedacht - und das auch noch Urlaub getauft?

Auf der Passhöhe treibt der Wind Schneeflocken waagerecht über die Grenze zwischen Italien und der Schweiz. Die Füße waren einmal nass, seit ein paar Stunden sind sie taub. Jetzt nur noch die Fahrräder ein paar Stunden durch den Neuschnee über eine steile Flanke voller Geröll ins Tal tragen. Diese Strecke bergab zu fahren, das wäre viel zu gefährlich. Während des Leidensweges ins nächste Tal verwandelt sich der Schnee irgendwann wieder zu Regen. Das Selbstmitleid bleibt unverändert. Wenigstens die letzten paar Kilometer zum Tagesziel sind fahrbar, dafür aber schlammig. Es ist spät geworden, im Hotel hat die Küche schon geschlossen.

Wahnsinn. Ein unglaublicher Tag, ein unglaublich großartiger Tag.

Wie bitte? Wie kann ein normal vernünftiger Mensch so eine Freiluft-Quälerei gut finden, zumal er den ganzen Tag nur geschimpft, gejammert, geflucht hat? Die Frage könnte auch lauten: Warum rudern Menschen über den Atlantik, warum schleifen sie einen Gepäckschlitten quer durch Grönland, laufen Marathon, schwimmen längs durch den Bodensee, klettern auf Berge oder wandern vom einen zum anderen Ende der Welt? Vielleicht verleitet die frische Luft dazu, im Freien anstrengenden Unsinn zu treiben. Was macht den Reiz der Outdoor-Leiden aus?

Es sind die Schmerzen selbst: Menschen treiben seltsame Dinge im Freien, gerade weil es weh tut, weil es schmerzt und hässlich anstrengend ist. Durch den immensen Aufwand ist die Verklärung dieser bekloppten Unternehmungen garantiert: Je höher die Anstrengungen für etwas sind, desto leichter fallen Menschen Gründe dafür ein, die Sache großartig zu finden. So verwandelt sich eine Quälerei durch Regen, Schnee und Schlamm in eine Heldengeschichte. Natürlich trägt auch die Kulisse der Natur dazu bei, Selbstmitleid in esoterisch anmutende Verklärung umzumünzen.

Lady Chatterleys Liebhaber

Um das Glück der Schinderei im Freien zu verstehen, hilft eine Zeitreise zurück in die 1950er-Jahre. An der Universität Stanford in Kalifornien überprüfte damals Elliot Aronson seine These, wonach Menschen erreichte Ziele um so mehr schätzen, je größer die investierte Mühe war. Der Sozialpsychologe hetzte seine Probanden dazu nicht über die Berge, sondern drückte ihnen das Buch "Lady Chatterleys Liebhaber" in die Hand. Der Wissenschaftler hatte zum Schein ein Seminar zur Psychologie der Sexualität an der Universität ausgeschrieben. In den verdrucksten 1950er-Jahren übte so eine Lehrveranstaltung besondere Anziehung aus, und so schrieben sich weit mehr Studenten ein, als es freie Plätze gab. So lautete zumindest die offizielle Begründung, die Aronson den Bewerbern dafür lieferte, dass sie vor der Teilnahme eine Art Aufnahmeprüfung bestehen sollten.

Die interessierten Studenten wurden dazu in zwei Gruppen aufgeteilt. Die eine Hälfte musste Begriffe mit sexueller Färbung aus einem Wörterbuch vorlesen. Das war selbst in den 1950er-Jahren keine große Hürde. Die anderen Studenten forderte Aronson auf, vor Publikum laut und lebhaft intoniert schlüpfrige Passagen aus dem erotischen Roman "Lady Chatterleys Liebhaber" von D. H. Lawrence vorzutragen. Und das trieb die Schamesröte in die Gesichter der Studenten.

Schließlich mussten alle Teilnehmer der Studie Tonbandaufzeichnungen anhören, auf denen vermeintlich Diskussionen aus einem ähnlichen Sex-Seminar aufgezeichnet waren. Tödliche Langeweile charakterisiert den Inhalt dieser Bänder nur ungenügend: Die Diskutanten stammelten, beendeten ihre Sätze nicht und redeten über die Federkleider von Vögeln während der Balz statt von aufregenden Spielarten menschlicher Sexualität. Es war ungefähr so attraktiv wie eine quälend anstrengende Auffahrt mit dem Mountainbike bei Regen und Schnee.

"Die beste Erfahrung meines Lebens!"

Doch die sexuellen Abenteuer der verheirateten Constance Chatterley mit einem schmucken Wildhüter namens Oliver Mellors verliehen dem Gestammel auf den Bändern ungeahnten Reiz. Wer zuvor der hochpeinlichen Situation ausgesetzt gewesen war und erotische Szenen vorgelesen hatte, bewertete die öden Aufnahmen als spannend, aufregend und inspirierend. Wer zuvor die mildere Variante der Aufnahmeprüfung absolviert hatte, bewertete die Aufnahmen als das, was sie waren: saumäßig fad und kaum zu ertragen.

Für Aronson lag die Schlussfolgerung auf der Hand. Wer sich freiwillig unangenehmer oder schmerzhafter Erfahrungen aussetzt, um ein Ziel zu erreichen, der findet dieses am Ende fast automatisch großartig. Denn was wäre die Alternative? Man müsste einsehen, dass man ein ziemlicher Trottel ist, der die ganzen Qualen umsonst auf sich genommen hat.

Der Effekt ist seither in zig weiteren Studien bestätigt worden und erklärt die Lust am Leiden im Sport und in anderen Situationen: Gebete und Rituale gelten als besonders mächtig, wenn sie den Gläubigen viel abverlangen. Und Studentenverbindungen oder andere Clubs, die Aspiranten demütigenden Aufnahmeprüfungen unterziehen, finden auf diese Weise besonders eifrige Mitglieder: Wer rohe Leber verzehrt oder seinen eigenen Urin getrunken hat (beides wirkliche Beispiele), findet seine neuen Vereinskollegen nach bestandener Demütigung besonders phantastisch. Andernfalls müsste er ja einsehen, dass er da immensen Blödsinn getrieben hat.

Es geht um Selbstrechtfertigung: "Was? Ich sitze seit Wochen in diesem Boot und rudere durch den öden, offenen Ozean? Es muss großartig sein, die beste Erfahrung meines Lebens!" Diese sogenannte Reduktion kognitiver Dissonanzen geschieht natürlich nicht bewusst. Aber der Outdoor-Extremsportler wird von Freunden und Bekannten ohnehin häufig dazu gedrängt, seine an sich sinnlosen Tätigkeiten zu rechtfertigen. Da finden sich schon ein paar Gründe, mit denen sich die innere Brille schön rosa färben lässt.

So wolkig, wie es ist

Hier schon einmal ein paar zur Auswahl: Im Journal of Environmental Psychology ließen Forscher um Richard Ryan wissen, dass Naturerlebnisse die Vitalität und das Wohlbefinden der Menschen steigerten. Das klingt so wolkig wie es ist, aber das macht nichts - fest an gesundheitliche Vorteile des eigenen Tuns zu glauben, hilft sicher, die damit verbundenen Widrigkeiten zu ertragen. Andere Forscher haben ermittelt, in welchem Ausmaß der Anblick von Bergen, Wäldern, Flüssen, Seen und Ozeanen Ehrfurcht im Betrachter auslöst.

Demnach handelt es sich um eine zutiefst spirituelle Erfahrung. Und die Erfahrung von Ehrfurcht, so berichteten Psychologen um Melanie Rudd jüngst in Psychological Science, dehne das Zeiterleben in die Länge, versetze die Menschen ins Hier und Jetzt, fördere das Wohlbefinden und lindere empfundene Ungeduld. Nur ist es leider sehr schwer, ehrfürchtig die Natur zu betrachten, während man monoton das Meer durchrudert, im Wildwasser paddelt oder beim Fahrradfahren stier auf den Schotterweg vor sich glotzt.

Aber irgendwas muss ja dran sein, oder? Wer würde denn sonst mehr als zwölf Stunden am Stück durch Regen und Schnee in den Alpen herumkeuchen? Der Schmerz ist das Ziel, um wem danach nicht alles weh tut, der ist nicht dabei gewesen.

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