Notorische Zuspätkommer:"Pünktlichkeit käme einer Unterwerfung gleich"

Notorische Zuspätkommer: Schon wieder zu spät? Vielleicht sollten Sie mal Ihre innere Einstellung überprüfen.

Schon wieder zu spät? Vielleicht sollten Sie mal Ihre innere Einstellung überprüfen.

(Foto: iStockphoto)

Jeder war schon mal zu spät dran. Doch es sind immer dieselben, die regelmäßig unpünktlich sind. Ein Gespräch über Machtspiele und innere Konflikte - zum Tag des Zuspätkommens. Mit Verspätung, wie es sich gehört.

Von Violetta Simon

Die Freunde stehen seit fünf Minuten vor dem Kino, da trifft der notorische Zuspätkommer ein. Die Belegschaft sitzt im Meeting, doch der Wichtigste fehlt. Der Chef aber lässt sich Zeit - und verdammt die anderen zum Warten. Pünktlichkeit, eine Zier? Der Psychologe Roland Kopp-Wichmann ist Führungskräftetrainer und Coach in Heidelberg. Im Gespräch mit Süddeutsche.de erklärt der 65-Jährige, warum Verspätung durch innere Konflikte entsteht - und Pünktlichkeit für manche einer Unterwerfung gleichkommt.

SZ.de: Herr Kopp-Wichmann, welche Bedeutung hat Pünktlichkeit in einer Zeit, in der unsere Tage größtenteils durchgetaktet sind?

Roland Kopp-Wichmann: Eine immense. Einen Wert an sich hat Pünktlichkeit eigentlich seit Menschen eine Uhr besitzen. Es gibt aber auch Kulturen, die haben keine Zeitmessgeräte - und es klappt trotzdem. Da heißt es eben: Wir treffen uns bei Sonnenuntergang am Fluss, und niemand kommt zu früh oder zu spät.

Sonnenuntergang ist ja eher eine Ermessensfrage als eine Zeitangabe. Auf die Minute pünktlich zu sein, ist da doch gar nicht möglich.

Minutengenaue Pünktlichkeit ist ein Fetisch unserer Zeit. Seit der Atomuhr zählen wir jetzt selbst Millisekunden, damit hat sich auch unser Anspruch erhöht. Die Natur funktioniert aber seit Millionen Jahren prima und ist auch nicht pünktlich.

Sie meinen, nicht in unserem Sinne pünktlich.

Genau. Wir haben, beispielweise durch Sommerzeit und Winterzeit, festgelegt, was wann beginnt. Der Wettermensch in der Tagesschau sagt: Dieses Jahr kommt der Sommer zu spät, doch die Natur kümmert sich nicht darum.

Wozu brauchen wir sie dann, die Pünktlichkeit?

Pünktlichkeit ist eine gesellschaftliche Übereinkunft. Es ist nunmal unerlässlich, dass sich alle an einen vereinbarten Zeipunkt halten, um eine geplante gemeinsame Aktivität zu starten.

Leider sind nur selten alle zum vereinbarten Zeipunkt da. Vor allem: Es sind meist dieselben Leute, die zu spät kommen - und das in Zeiten satellitengesteuerter Funkuhren.

Diese Beobachtung ist absolut richtig. Jedem kann die Bahn vor der Nase wegfahren, das passiert eben. Aber es gibt Leute, die kommen immer genau fünf Minuten zu spät. Das hat Methode.

Sie meinen, diese Personen machen das absichtlich?

Keineswegs, viele Menschen verstehen ihre Unpünktlichkeit selbst nicht. In Wirklichkeit handelt es sich um einen inneren Konflikt. Die Person assoziiert mit dem Pünktlichsein etwas Unangenehmes, und zwar einen Autonomie-Verlust. Dieser tritt in dem Moment ein, in dem derjenige eigentlich los müsste. Er fühlt sich durch die Terminvereinbarung eingeschränkt, ähnlich wie in der Kindheit, als es hieß: Um zehn bist du zuhause. Pünktlich zu sein, käme in diesem Fall einer Unterwerfung gleich. Deshalb rebelliert er innerlich dagegen. In diesem Moment kriegt er es einfach nicht hin, alles liegen zu lassen, um bei dem Meeting pünktlich zu sein. Also telefoniert er noch. Dann erst geht er zu dem Termin.

Und vergewissert sich so seiner Selbstbestimmtheit.

Genau. Es geht dabei immer um Emotionen, nicht um den Verstand. Der Unpünktliche sagt: Ich muss den Anruf noch machen! Der andere weiß: Wenn ich das tue, komme ich zu spät. Die Pünktlichen erleben den Termin nicht als Einschränkung, sie sind da einfach flexibler.

Wer auf andere wartet, fühlt sich oft machtlos. Ist Wartenlassen also eine Art Machtdemonstration?

Durchaus, aber auch hier liegt ein innerer Konflikt vor: Wer 20 Minuten oder mehr zu spät kommt, braucht seinen Auftritt, der hat das Bedürfnis, gesehen zu werden - denn dann erkennen alle anderen, dass er wichtig ist. Bei so einer Zeitspanne geht er garantiert nicht unter. Wenn er dann auch noch eine hochtrabende Begründung vorzuweisen hat, etwa ein wichtiges Meeting oder ein Auslandsgespräch, geht er davon aus, dass die anderen beeindruckt sind.

Unpünktlichkeit als Machtdemonstration

Roland Kopp-Wichmann

Der Psychologe Roland Kopp-Wichmann, Führungskräftetrainer und Coach aus Heidelberg.

Sind es wirklich immer die wichtigen Leute, die andere warten lassen?

Nicht zwangsläufig. Es gibt auch Mitarbeiter, die meinen, durch Unpünktlichkeit Macht demonstrieren zu müssen. Doch bevorzugt machen das Personen in Führungspositionen. Unter anderem, weil sich keiner traut, zu sagen: So geht das nicht! Der Chef glaubt, dass er sich das rausnehmen kann.

Stimmt ja auch. Und meistens können Konferenzen noch nicht einmal ohne ihn anfangen.

Ein wichtiger Punkt. Das sehen Sie auch bei Konzerten. Manche Musiker sitzen eine Stunde nach Konzertbeginn in der Garderobe mit ihren Kumpels und lachen sich eins. Sie wissen in dem Moment genau: Die 5000 Menschen laufen schon nicht weg. Wenn der Einkaufsleiter sagt: Wir treffen uns um zehn Uhr und der Vertriebsmitarbeiter erfährt vor Ort von dessen Sekretärin, dass der andere sich um eine halbe Stunde verspätet, muss er eben warten. Weil der Auftrag sonst weg ist. Und das, obwohl der Einkaufsleiter vielleicht gerade einfach nur sein zweites Frühstück einnehmen möchte - eine Machtdemonstration.

Gibt es denn keine Möglichkeit, so jemandem beizukommen?

Vielleicht durch dieses Interview (lacht). Nein, im Ernst: Das ändert sich nur, wenn jemand diese Mechanismen bei sich selbst als negative Eigenschaft erkennt. Als Außenstehender kann man das nicht ändern. Derjenige muss sich selbst fragen: Warum komme ich immer zu spät? Und dann verstehen: Aha, ich rebelliere gegen eine Vorgabe. Beim nächsten Mal erkennt er diesen Mechanismus vielleicht rechtzeitig und ändert sein Verhalten.

Doch wenn der Druck groß genug ist, wird plötzlich nicht mehr rebelliert: Zum Flugzeug schaffen es selbst die Unpünktlichen.

Erstaunlich, nicht wahr? Natürlich könnte man entsprechend drakonische Strafen vereinbaren: Wer nicht pünktlich zum Raclette-Essen bei Freunden erscheint, kriegt keinen Stuhl oder nur noch den Nachtisch. Oder wer sich zum Meeting verspätet, zahlt 100 Euro in die Kaffeekasse. Das würde vielleicht helfen, ist aber im Alltag oder Berufsleben nur schwer umzusetzen. Es gibt eben Abhängigkeiten, denen wir uns schlecht entziehen können.

Aber man könnte ja - wenn es sich nicht gerade um den Chef handelt - den Zuspätkommer ignorieren und schon mal ohne ihn anfangen: einfach reingehen ins Kino oder zu essen beginnen.

Tun Sie das ruhig. Das ändert zwar nichts an der Unpünktlichkeit des notorischen Zuspätkommers. Aber zumindest fühlen sich die Pünktlichen dann besser.

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