Nacktheit im Jahr 2017:Mehr nackte Haut war noch nie

Hugo Egon Balder wird 65

Hugo Egon Balder und seine Mädchen aus der RTL-Nackedeishow "Tutti Frutti"

(Foto: picture alliance / dpa)

Aber nur digital. Denn wer sich selbst am Strand entblößt, der gilt als gefährlich. Gedanken zur neuen Körperlichkeit zwischen Pornos und Prüderie.

Von Friederike Zoe Grasshoff

Hätte es 2004 schon Twitter gegeben, der Begriff "Nipplegate" wäre mit Sicherheit sehr, sehr oft gefallen. Damals traten Janet Jackson und Justin Timberlake beim Super Bowl auf, sie sangen ein Lied, das "Rock Your Body" heißt, irgendwann riss Timberlake so fest an Jacksons Kostüm, dass Millionen von Amerikanern mitansehen mussten/konnten/durften, wie Jacksons Brustwarze freigelegt wurde.

Eine Brustwarze! Die Medien tauften den Vorfall damals Nipplegate, und wie das Skandalisierungs-Suffix -gate schon sagt: Hier war etwas Unerhörtes passiert. Eine große, geplante Aufmerksamkeits-Show? Eine Bankangestellte reichte Klage ein; nach jenem 1. Februar 2004, dem man das Eklathafte heute kaum noch abnimmt, beschlossen ein paar Fernsehsender, mediale Großlagen wie die Oscars lieber mit ein paar Sekunden Verzögerung auszustrahlen. Schon süß, 2004.

Dreizehn Jahre später ist Nacktheit und die Frage, wie die Gesellschaft mit ihr umgeht, mal wieder ein recht präsentes Thema; wegen Protesten, die in Argentinien stattfanden, und, auch das, wegen der wirklich aufregenden Nachricht, das Nackt-Magazin Playboy drucke künftig wieder Fotos von Nackten.

Dabei hat der durchschnittliche Googler längst so viele Brüste und andere Geschlechtsteile gesehen, wie Lkw-Fahrer vorbeiziehende Leitplanken. Verbringt man einen halben Tag auf Instagram, dem vielleicht narzisstischsten aller Netzwerke, könnte man meinen, die Zeiten des Nipplegate seien vorbei, so viele Menschen mit sehr wenig Kleidung da überall zu sehen sind.

Ja, man könnte meinen, Großteile dieser digitalen Gemeinschaft bestünden aus Nudisten. Aus eher unentschlossenen Nudisten, die nackt sind, ohne nackt zu sein. Die explizit sind, ohne explizit zu sein. Busen und Muskelarme werden zwar in die Kamera gehalten, die Brustwarzen aber werden meist mehr oder weniger gekonnt verdeckt, also doch auch heute noch: #nipplegate, in Zeiten von Youporn und Seitensprung.de?

Soziale Medien wie Instagram stellen den Mensch zwar in seiner ganzen Posen-Haftigkeit aus, richtig nackte Körper und weibliche Brustwarzen sind aber eigentlich verboten (männliche Brustwarzen dürfen netterweise gezeigt werden). Den Nutzungsbedingungen zufolge darf man keine "sexuell anzüglichen Fotos oder sonstige Inhalte" posten. Gute Absicht, aber: keine sexuell anzüglichen Fotos? Böse ausgedrückt ist Instagram ein Mosaik sexuell anzüglicher Fotos nebst Kulinaria- und Ich-war-hier-Fotografie.

Was ist normal?

Beim Mutterunternehmen Facebook die gleiche Chose. Bikini oder Badehose darf er tragen, der Nutzer und Benutzte, nur nackt geht halt nicht; regelmäßig kommt es zu abstrusen Lösch-Vorgängen, die ein seltsames oder gar nicht existentes Geschichtsverständnis offenbaren. Neulich wurde ein Bild entfernt, das die Neptun-Statue auf der Piazza del Nettuno in Bologna zeigt, einfach zu explizit, dieser Wassergott ohne Badehose.

In einer Zeit, in der Jugendliche und halbwegs Erwachsene Busen- und Penisbilder rumschicken, Selfie-Künstler wie Kim Kardashian die Kulturtechnik des Fast-nackt-Selbstporträts etabliert haben, FKK-Liebhaber aber als altbacken belächelt und Fotos von nackten Statuen gelöscht werden, kann man sich schon fragen: Was ist das für eine neue, normale Nacktheit? Vielleicht ist es ein Nackt, das etwas mit gefühlter Selbstbestimmung und Macht zu tun hat. Aber eher weniger mit Intimität, mit wahrer Blöße.

Kein Platz für den normalen, unpolierten Körper

Es ist ein Raum entstanden, in dem seit Jahren eine zweite, sexuelle Revolution gefeiert wird; es ist aber auch ein Raum entstanden, in dem der normale, unpolierte Körper kaum noch Platz hat. Und, ganz analog gefragt: Was ist mit den Frauen, die im Café ihre Kinder stillen und ganz artig darauf achten, dass auch keiner ihre Nippel sehen muss? Und wer zeigt heute noch die Bilder von seinen Kindern in der Badewanne her? Einst unverfänglicher Bestandteil des Familienalbums, und heute: nicht wirklich akkurat, wo Nacktheit Normal- und Alarmzustand zugleich ist.

Normal, oder vielleicht auch einfach gar nichts, das müssen auch die drei Frauen gedacht haben, die sich vor knapp zwei Wochen in der argentinischen Küstenstadt Necochea am Strand gesonnt haben, ohne Bikini-Oberteil. Alarm, dies muss hingegen ein anderer Strandbesucher gedacht haben, er rief die Polizei. Kurze Zeit später standen da drei Polizeibeamte und forderten die Frauen dazu auf, sich obenrum bitteschön was anzuziehen. Als die Frauen sich weigerten, standen da am Ende 20 Polizisten mit sechs Streifenwagen, Großeinsatz. Ein Richter stellte das Verfahren gegen die Frauen schließlich ein. Oben ohne in der Öffentlichkeit - in Argentinien sowie in den meisten Ländern Süd- und Mittelamerikas sowie auch in den Vereinigten Staaten schickt sich das eher nicht.

"Die echten Brüste stören euch"

Was folgte, waren Busen-Kundgebungen in den argentinischen Städten Buenos Aires, Mar del Plata und Rosario, halb nackte Frauen protestierten dort gegen das Vorgehen der Polizei am Strand von Necochea. "Unser Körper gehört uns, und wir können unseren Körper so zeigen, wie wir wollen", sagte eine. Eine andere, die Linkspolitikerin Vilma Ripoll, wird so zitiert: "Alle Leute wollen Brüste im Fernsehen sehen. Die echten Brüste stören euch."

Nacktheit, und damit ist nicht die in den Timelines gemeint, steht nicht nur im Zeichen von Entspanntheit, sondern eben auch in der Tradition des politischen Protests. In den Sechzigern etwa, als eine Art ziviler Ungehorsam, als Kritik am Gesellschaftssystem. Man denke auch an die Aktivistinnen der Gruppe Femen, die mit Protestaktionen mit nacktem Busen auf der Pariser Fashion Week, im Kölner Dom oder im Wahllokal von Donald Trump immer wieder klickträchtige Bilder produzierten.

Ein paar Männer sollen die Gelegenheit der Busen-Kundgebung übrigens genutzt - und ein paar Selfies samt Demonstrantinnen im Hintergrund geschossen haben. Womit die Frage beantwortet wäre, was wahre Blöße ist. Und was ein Nipplegate, in diesen nackten, diesen prüden Zeiten.

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