Nach Mobbing einer übergewichtigen Busbegleiterin:Fünfzehn Minuten Ruhm

Karen Huff Klein wurde in einem Schulbus hemmungslos beschimpft und beleidigt, das zufällig aufgenommene Video im Internet schon millionenfach gesehen. Auf einer spontan eingerichteten Spendenwebsite für die Amerikanerin ging bisher knapp eine halbe Million Dollar ein. Das hilflose Opfer ist über Nacht berühmt geworden.

Melanie Staudinger

Der Moderator im amerikanischen Frühstücksfernsehen weiß gar nicht, wohin mit seiner Wut. Das Video, um das es geht, sei "eines der verstörendsten und deprimierendsten Dinge, die ich seit langem gesehen habe". Er spricht von "Monstern", als er die Jugendlichen beschreibt, die im Bundesstaat New York minutenlang hemmungslos eine 68-jährige Frau im Schulbus beschimpft haben.

Fett sei die Frau, und sie schwitze, hört man sie sagen. Außerdem, ruft einer der Jungen, habe sich schon ihre ganze Familie umgebracht, weil niemand in ihrer Nähe sein wolle. Die Frau sitzt währenddessen still da, irgendwann weint sie. Doch selbst da hacken die Jugendlichen noch weiter auf ihr herum.

Das Video hat jemand ins Netz gestellt, der sich "Capital Trigger" nennt. Er behauptet, nichts mit der Beleidigungsorgie zu tun zu haben, sondern sie bei Facebook gefunden zu haben. Dafür nennt er die vollen Namen der mutmaßlichen Täter und den Namen der Frau, sie heißt Karen Huff Klein und arbeitet als Busbegleiterin für die Athena Middle School in Rochester. Im Leben des Opfers ist seither nichts mehr wie es war.

Das wackelige, vermutlich per Handy aufgezeichnete Filmchen von Kleins Martyrium ist inzwischen in unzähligen Versionen und auf allen gängigen Videoplattformen abrufbar. Allein beim Marktführer YouTube wurde es binnen weniger Tage millionenfach angeklickt. "Capital Trigger", der unbekannte Verbreiter, schreibt, er habe zeigen wollen, wie mies die Jugendlichen sich aufgeführt haben. "Helft Karen, in Urlaub oder Rente zu gehen", heißt es unter dem Video - daneben steht ein Link zu der Spendenwebsite indiegogo.com, auf der Internetnutzer für Mrs. Klein Geld geben können.

Und das tun sie. Am vergangenen Mittwoch ging der Appell online, nur 24 Stunden später zeigte der Spendenzähler bereits 215 000 US-Dollar an. Bei Redaktionsschluss an diesem Freitag waren es rund 485 000 Dollar. Damit hätte wohl niemand gerechnet, am wenigsten Klein selbst. Als Busbegleiterin verdiene sie etwa 15 000 Dollar im Jahr, sagte sie nun bei einem ihrer zahlreichen Fernsehauftritte. Urlaub? Nicht drin. Mit Tränen in den Augen bedankte sich die 68-Jährige vor laufenden Kameras bei ihren vielen Unterstützern. Karen Klein, das hilflose Opfer aus dem Schulbus, ist über Nacht berühmt geworden.

Es ist eine Form von Berühmtheit, wie sie die eigenartige Welt der Internetvideos schon oft hervorgebracht hat. Und doch ist dieser Fall außergewöhnlich. Videos, in denen Menschen zu Alltagshelden (oder Spottfiguren) werden, finden sich im Netz zuhauf. Mal sind es süße Kleinkinder, mal betrunkene Schläger in der U-Bahn, mal tollpatschige Brautleute. Und oft dauert der Weg in die Bekanntheit nur wenige Tage.

Populäre YouTube-Videos

Selcuk Kahraman, zum Beispiel, hätte wohl nie gedacht, dass er mal zum Internethelden der Türkei werden würde. In seinem YouTube-Video wehrt sich der Straßenkehrer gegen einen jugendlichen Angreifer und vermöbelt ihn mit seinem Besen. Der kurze Clip des zierlichen Mannes, der sich beherzt zur Wehr setzt, hat in den vergangenen Wochen mehr als 1,5 Millionen Klicks erzielt.

Ähnlich populär ist das Video einer Engländerin, die von einer Überwachungskamera dabei gefilmt wurde, wie sie eine Katze auf der Straße erst streichelt und dann in eine Mülltonne wirft. Als die Frau kurz darauf identifiziert war, erhielt sie Morddrohungen aufgebrachter Tierschützer.

In Deutschland wurde zuletzt das Video eines Rentners zum Hit, der dabei gefilmt wurde, wie er beim Ausverkauf einer Filiale der insolventen Drogeriekette Schlecker an die 100 Packungen Klopapier und Küchenrolle bunkerte und seinen Schatz vehement gegen andere Schnäppchenjäger verteidigte.

Mitleid, Sympathie, Wut oder Spott: Das sind die Emotionen, die ein Video im Netz auslösen muss, am besten mehrere zugleich - wie im Fall von Karen Klein.

Reich dank Wackelvideo

Was den Fall der Busbegleiterin aus Rochester so bemerkenswert macht, ist der Aktivismus ihres Publikums - in Form einer spontanen, dezentralen Spendenaktion: Tausende Menschen unterstützten eine ihnen unbekannte Person. Und innerhalb kürzester Zeit kommt ein Betrag zusammen, der die 68-Jährige mindestens wohlhabend macht. Statt, wie im Altmedium Fernsehen, eine pompöse Gala oder ein Benefizkonzert mit trällernden Stars zu veranstalten, reicht ein kleines Wackelvideo vom Handy.

Die Spendenkampagne hat auch Christian Müller überrascht, Experte für Online-Marketing aus Hamburg. "Von einem ähnlichen Fall habe ich noch nicht gehört", sagt er. Ob sich so etwas wiederholen oder gar planen ließe? Müller ist skeptisch: "Das haben Sie ja überhaupt nicht in der Hand." Selbst wenn ein Video extrem lustig oder erschreckend sei und dadurch bei den Betrachtern den Reflex hervorrufe, "dass sie ihn unbedingt ihren Freunden zeigen wollen", seien zwar die Voraussetzungen für "virales Marketing" erfüllt. Aber auch dann, auch wenn ein Film kreuz und quer durch die Netzwerke geschickt werde und viel Aufmerksamkeit erhalte, verpuffe diese in der Regel schnell.

Im Fall von Karen Klein allerdings könnte der Ruhm eine Weile anhalten. Die Spendensammlung für die Busbegleiterin läuft noch 28 Tage.

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