Musik:Traumtanz

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"Wenn ein Junge vor deinen Augen drei Stunden lang über sich hinauswächst": Emile Gooding als Billy. (Foto: Alastair Muir)

Es ist die schwierigste Kinderrolle in einem Musical. Nun kommt"Billy Elliot" nach Hamburg.

Von Tanja Rest

So, wie Stephen Daldry sie am Telefon erzählt, klingt auch die Geschichte hinter der Geschichte wie ein hoffnungsloser Fall, der auf kuriosen Wegen zu einem Happy End gefunden hat. Da landete eines Tages also dieses Drehbuch auf seinem Tisch. In einem Satz: Sohn eines britischen Bergarbeiters entdeckt seine Leidenschaft fürs Ballett und übt heimlich für die Aufnahmeprüfung an der Royal Ballet School, wo er schließlich aufgenommen wird. Kein niedliches Haardutt-Mädchen im rosa Tutu, wohlgemerkt. Sondern jungenhaft ungelenke Pirouetten und Pliés, angesiedelt vor der grimmigen Kulisse des Bergarbeiterstreiks Mitte der Achtzigerjahre, unterlegt mit den Beats von T. Rex und The Clash. Diese unwahrscheinliche kleine Story fand nicht nur Geldgeber, die an sie glaubten, sondern in Daldry auch einen Regisseur, und der fertige Film landete dann tatsächlich im Festival von Cannes, wo er auf ein Publikum traf, das ihn liebte. Das hätte es im Prinzip sein können für "Billy Elliot". Aber dann kam eben Elton John.

Singen, Spielen, Stepptanz und Ballett - der Anspruch ist schwindelerregend

"Er war zufällig in Cannes", erzählt Daldry. "Der Film hat ihn bewegt, er erinnerte ihn an seine eigene Kindheit und an den Vater, der seine Begeisterung für Musik nie verstanden hat. Elton fand, man müsse aus dem Stoff ein Musical machen. Wir stellten uns tanzende Bergarbeiter vor und bekamen erst mal Gänsehaut." Er lacht.

Das war im Frühjahr 2000. Lange her. Daldry hat seither noch vier weitere Filme gemacht, er hat Nicole Kidman ("The Hours") und Kate Winslet ("Der Vorleser") zu einem Oscar verholfen und dreht in London gerade die zweite Staffel der hochgelobten Netflix-Serie "The Crown". Daldry ist seit "Billy Elliot" gut im Geschäft. Aber er klingt wie ein Mann, der diese allererste Geschichte, die er erst für die Leinwand und dann für die Bühne inszeniert hat, niemals wirklich losgeworden ist.

"Billy Elliot - The Musical" startete im Mai 2005 zu euphorischen Kritiken im Londoner West End, mehr als elf Millionen Menschen haben es seither gesehen. Nun kommt die aktuelle Produktion für vier Wochen nach Hamburg (Theater am Großmarkt, 29. Juni bis 23. Juli), darum gibt Daldry dieses Interview. Doch die Fragen stellt er erst mal selbst, Emotion in der Stimme. "Haben Sie den Film noch einmal angeschaut? Wie fanden Sie ihn?" Genauso rührend wie vor 17 Jahren. "Oh großartig! Und Sie haben die Show in Liverpool gesehen, wie war das Publikum?" Trampeln, Klatschen, Standing Ovations. "Es hat alles gut geklappt?" Ja, doch. Stille in der Leitung. "Und die Billys . . .?"

Nun ja. Die Billys waren fantastisch.

Ein wolkenverhangener Nachmittag in Liverpool, auf der sehr großen Bühne des Empire Theatre stehen drei kleine Jungs. Der eine tanzt eine Diagonale. Der nächste übt Pirouetten. Der dritte schwingt am Stahlseil hoch oben durch die Luft, das ist die Traumsequenz, in der Billy eine Zukunft als Tänzer imaginiert. Zwei Ballettlehrer schauen zu, unterbrechen, korrigieren. "Okay, boys, let's do this again!" Es ist nur eine Probe, ohne Kulissen und Kostüme, ohne Musik. Aber was man sieht, ist atemberaubend.

Billy Elliot ist die schwierigste Kinderrolle, die es in einem Musical jemals gegeben hat. Der Junge, der Billy ist, muss nicht nur schauspielen und singen können, sondern Ballett und Stepptanz auf höchstem Niveau beherrschen, drei Stunden nonstop. Er muss das Lampenfieber in den Griff bekommen. Er muss damit umgehen können, dass die ganze gewaltige Musical-Maschinerie - etwa 40 Darsteller, dazu Techniker, Choreografen, Promoter, Veranstalter, Ticketverkäufer, mehr als tausend Zuschauer allabendlich - auf seinen schmalen Schultern ruht und sofort zum Stillstand kommt, wenn er schlappmacht. "Es ist schwindelerregend", sagt Daldry.

Als sie damals auf der Bühne des Old Vic einen einwöchigen Workshop abhielten und schließlich glaubten, dass es funktionieren könnte, hatten sie große Teile des Billy-Musicals schon beisammen: die Musik von Elton John, eine Abfolge der Szenen, eine grobe Choreografie. Was sie nicht hatten, war ein Billy. "Der große Unterschied zum Film ist ja: keine Schnitte", sagt Daldry. "Du kannst eine verkorkste Szene nicht wiederholen, es muss gleich beim ersten Mal sitzen, live. Und die Frage war: Finden wir ein Kind, dass das kann?"

Doch es stellte sich heraus: So, wie Billy im Film davon träumt, Balletttänzer zu werden, so träumen im richtigen Leben sehr viele kleine Jungs davon, Billy zu sein.

Die Auswahlprozedur ist ein Marathon, sie kostet Zeit und Kraft und Nerven - und die meisten am Ende ihren großen Traum. Eineinhalb Jahre, bevor irgendwo auf der Welt eine Billy-Produktion startet, findet ein Casting statt. Die Jungen im Alter von neun bis 13 Jahren werden getestet auf Disziplin, Antrieb, Konstitution und Rhythmusgefühl. Tanzen können müssen sie nicht. Aus ein paar Hundert Kindern werden etwa 60 ausgewählt. Ein Jahr lang bekommen sie an drei Abenden nach der Schule und am Wochenende Unterricht in Ballett, Stepptanz, Akrobatik, Schauspiel und Gesang, dabei wird kontinuierlich ausgesiebt. Am Ende dieses Jahres beginnen sechs potenzielle Billys damit, die Rolle einzustudieren, das dauert noch einmal sechs Monate, und danach sind vier von ihnen am Ziel. Was gleichzeitig bedeutet: weg von zu Hause. Unterwegs mit der Billy-Truppe, Unterricht vom Privatlehrer, zwei bis drei Vorstellungen die Woche, Training täglich.

Drei Jungs, die im coolsten Abenteuer ihres Lebens gelandet sind

Man muss keine helikopternde Übermutti sein, um sich zu fragen, ob das nicht eigentlich der Vollhorror ist.

Aber dann steigen die Billys nach der Probe im Empire Theatre von der Bühne und sind einfach dies: drei kleine Jungs, die im coolsten Abenteuer ihres Lebens gelandet sind. Sie heißen Adam Abbou, Emile Gooding und Lewis Smallman und sind 13 und 14 Jahre alt (der vierte Billy, Haydn May, hat gerade Heimaturlaub). Emile sagt, dass sein Lieblingsmoment im Stück das Schwingen am Drahtseil sei und dass er selbst und alles, was nicht Billy ist, beim Betreten der Bühne verschwindet. Lewis sagt, dass er sich auf Hamburg freut, es aber schade findet, dass die Produktion dort nach drei Jahren endet. Adam sagt, er wisse noch nicht, ob er Tänzer werden wolle. "Ich will ja alles ausprobieren. Jetzt habe ich Musical probiert, danach könnte ich vielleicht mal Fernsehen versuchen." Sie geben zu, dass es manchmal nervt, wenn sie keine Lust aufs Training haben oder ihre Familien vermissen, dass aber alles andere der blanke Wahnsinn sei.

Stunden später beginnt die Show, das Empire ist ausverkauft. "Billy Elliot", das Musical, ist dem Film nahezu Szene für Szene nachempfunden worden. Die liebevoll ausgestatteten Working-Class-Kulissen, die Achtzigerjahre-Klamotten, die Figuren bis in die Nebenrollen hinein: alles da. Die Songs von Elton John gehen leicht ins Ohr und genauso leicht wieder heraus, das Cast wirft sich mit glaubhafter Begeisterung ins Zeug, die Trickkiste brummt, es ist zunächst mal einfach ordentliches Entertainment auf der Höhe seiner Zeit. Den Unterschied macht Emile Gooding als Billy.

Niemals zuvor hat man ein Kind solche Sachen machen sehen, schon gar nicht auf einer Bühne, live, vor zweitausend Menschen. Ein Dreizehnjähriger, der singt, spielt, die schwierigsten Ballettschritte absolviert, steppt wie ein zu kurz geratener Astaire und dabei noch Seil springt, sodass es die Leute am Ende aus den Sitzen reißt, wobei sie (dies ist Liverpool) großzügig Lager Beer über den Teppich schütten. Wie hat Stephen Daldry gesagt: "Der Film hat viele Menschen berührt, sicher. Aber wenn ein Junge vor deinen Augen drei Stunden lang über sich hinauswächst, einfach so, weil ihm das jemand zugetraut hat, oh Mann. Das bricht dir das Herz."

© SZ vom 10.06.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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