#metoo-Debatte:Sexismus ist mehr als sexuelle Gewalt

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Sexismus beginnt nicht erst dort, wo es strafbar wird: Plakate auf einer Demo gegen sexuelle Übergriffe. (Foto: Peter Kneffel/dpa)

Soll man das missratene Kompliment und die Vergewaltigung gemeinsam diskutieren? Ja. Es kommt auf das Wie an.

Kommentar von Hannah Beitzer

Ein mächtiger Filmproduzent belästigt über Jahrzehnte hinweg systematisch Frauen, bis hin zur Vergewaltigung. Ein Politiker legt einer Journalistin bei einem gemeinsamen Essen mehrmals die Hand aufs Knie - und tritt Jahre später deswegen zurück. Ein ehemaliger Botschafter äußert sich verwundert, dass eine Staatssekretärin jung und schön ist.

Der Fall des Filmproduzenten Harvey Weinstein und der des ehemaligen britischen Verteidigungsministers Michael Fallon und die Debatte um die Berliner Staatssekretärin Sawsan Chebli sind nur drei der vielen Fälle, die im Zuge der #metoo-Debatte öffentlich wurden. Gemeinsam ist ihnen, dass sie sich im beruflichen Umfeld abspielen. Sie zeigen außerdem die große Spannbreite der Diskussion, eine Spannbreite, die immer wieder zu einer Frage führt: Gehört das wirklich alles zusammen? Eine Vergewaltigung, ein Griff ans Knie, ein missratenes Kompliment? Alles Sexisten, überall?

Im Fall Harvey Weinstein fiel nach den vielen Vorwürfen, die gegen ihn erhoben wurden, das Urteil der Öffentlichkeit sehr einhellig aus: Er sei ein Sexist der übelsten Sorte. Und hier fängt auch gleich die Verwirrung an. Wenn einer wie Weinstein ein Sexist ist - kann das dann auch jemand sein, der ein missratenes Kompliment macht?

Weinstein - ein Sexist! Aber die anderen?

Eine Vergewaltigung ist eine Straftat. Die New Yorker Staatsanwaltschaft hat folgerichtig Ermittlungen gegen Harvey Weinstein eingeleitet. Weinstein wäre, sollten sich die Vorwürfe bestätigen, nicht nur ein Sexist, sondern auch ein Straftäter. Er hat - so schildert es inzwischen eine große Anzahl von Frauen und Männern - über Jahre hinweg seine Machtposition in Hollywood ausgenutzt, um Frauen zu drohen, sie einzuschüchtern, sie sexuell zu belästigen. Deswegen wäre es in der Tat falsch, einen Mann, der einer Frau die Hand aufs Knie legt, auf eine Stufe mit ihm zu stellen.

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Vieles, was unter #metoo veröffentlicht wird, ist schrecklich und gehört an die Öffentlichkeit. Trotzdem stellt sich inzwischen ein Unbehagen über die Unbarmherzigkeit des Verfahrens ein.

Kommentar von Sonja Zekri

Das hat übrigens auch die betroffene Journalistin Julia Hartley-Brewer im Fall Fallon nicht getan. Sie erinnerte sich eher amüsiert an den Zwischenfall, schilderte, wie sie die unerwünschte Annäherung mit einer Drohung unterbannt: Sie würde ihm - frei übersetzt - "eine auf die Nase geben", wenn er nicht aufhöre. Sie nannte nicht einmal den Namen des Verteidigungsministers, der bekannte sich von selbst und trat zurück. Nicht nur Hartley-Brewer mutmaßte hinterher, dass das nicht allein an dem Vorfall liegen könne, der zudem bereits 15 Jahre zurückliegt.

Für noch mehr Unverständnis hat die Debatte gesorgt, die Staatssekretärin Sawsan Chebli angestoßen hat, nachdem sie der betagte Begrüßungsredner einer Veranstaltung nicht erkannt hat - und das begründete mit: ""Ich habe keine so junge Frau erwartet. Und dann sind Sie auch so schön." Wer das als Sexismus anprangere, der verzwerge die Harvey Weinsteins dieser Welt, schrieb der Berliner Tagesspiegel.

Sexismus beginnt nicht erst dort, wo es strafbar wird

Bedenklich ist daran, dass Diskutanten wie dieser offenbar automatisch an Vergewaltigung denken, wenn sie "Sexismus" hören. Dabei ist Sexismus viel mehr als nur sexualisierte Gewalt. Er beginnt nicht erst da, wo es strafbar wird. Sondern bezeichnet gesellschaftliche Strukturen, in denen Menschen wegen ihres Geschlechts diskriminiert werden.

Dazu gehört im beruflichen Umfeld, dass Frauen wie Sawsan Chebli viel häufiger als Männer auf ihr Aussehen reduziert, danach beurteilt und fachlich nicht ernst genommen werden. Dazu gehört auch, dass Männer häufiger Machtpositionen innehaben als Frauen und dass sie in diesen Machtpositionen Grenzen überschreiten. Das muss nicht gleich in einer Vergewaltigung münden, sondern kann auch der Chef sein, der die Praktikantin zu einem privaten Abendessen einlädt und sie damit in eine unangenehme Situation bringt, wie es die Journalistin Antonia Baum in der Zeit schildert.

Gerade aber diese Fälle, die nicht das Strafrecht regelt, die es auch gar nicht regeln soll und kann, muss die Gesellschaft umso intensiver debattieren. Dabei geht es nicht darum, jeden zu verdammen, zu entlassen, zum Rücktritt zu drängen, der jemals eine Kollegin auf ihr Aussehen angesprochen hat. Es geht um die Strukturen, die dahinterliegen. Denn sie bilden den Nährboden, auf dem Männer wie Harvey Weinstein überhaupt über Jahre ihre Macht missbrauchen können. Strukturen, in denen Frauen gefallen müssen, das Spiel der Jungs mitspielen. Strukturen, die durchaus eine Antwort geben auf eine Frage, die viele auch den Opfern von Weinstein stellen: Warum hast Du Dich nicht gewehrt?

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Unser Autor erinnert sich an eine Nacht, in der er selbst zum Problem wurde - und versucht Jahre später zu verstehen, was da eigentlich passierte.

Wie schwierig es in diesen Strukturen gerade für junge Frauen ist, zeigte zum Beispiel ein Artikel im Hollywood Reporter, in dem die Autorin Anna Graham Hunter sich an ein Praktikum erinnert, das sie 1985 als 17-Jährige an einem Set mit dem Schauspieler Dustin Hoffman absolvierte. Dieser habe sie mit anzüglichen Sprüchen bombardiert, am Po angefasst und um Massagen gebeten.

"Weichgekochte Klitoris" zum Frühstück

Hunter schildert, wie sie erst die Aufmerksamkeit des bekannten Schauspielers genoss, dann abgestoßen war von seinen ungewollten Berührungen und Sprüchen. Wie sie seine Hände wegschlug, wie Vorgesetzte ihre Beschwerden abwiegelten, Hoffman sie verspottete. Wie sie selbst unsicher war, wie das Verhalten des älteren Mannes einzuschätzen ist. Und wie sie in ihr Tagebuch notierte: "Niemand ist 100 Prozent gut oder schlecht. Dustin ist ein Schwein. Aber ich mag ihn auch sehr." Heute schreibt sie: "Mit 49 Jahren verstehe ich, wie das, was Dustin Hoffman getan hat, sich in ein größeres Muster dessen einfügt, was Frauen in Hollywood und überall anders erleben."

Was heißt das nun für alle anderen? Bei der minderjährigen Praktikantin eine "weichgekochte Klitoris" zum Frühstück zu bestellen, wie es Dustin Hoffman getan haben soll, ist ein Verhalten, das die meisten Chefs weit von sich weisen würden. Aber sie müssen sich zusätzlich bewusst werden, dass es etwas anderes ist, eine Praktikantin zum Essen einzuladen als eine Frau, die man auf einer Party bei Freunden kennenlernt. Erstere ist vom eigenen Wohlwollen abhängig, letztere nicht.

Es braucht außerdem Kollegen, die, wenn ein sexistischer Witz fällt, nicht mitlachen oder weghören, sondern widersprechen. Es braucht aber auch mehr Solidarität unter Frauen. Denn die sind häufig stolz, wenn sie in der Hierarchie ihr Plätzchen gefunden haben und kommen dann mit Ratschlägen wie "Einfach mitlachen" um die Ecke. Oder: "Ach, so schlimm ist das doch nicht." Oder: "Ich hab's doch auch geschafft." Anstatt mal mit ihrer gewonnenen Autorität im Büro auf den Tisch zu hauen und zu sagen: Schluss jetzt.

Nicht jedes sexistische Verhalten muss zur Entlassung führen

Es braucht eine Debatte, in der Frauen Sexismus ansprechen können, ohne gleich dem Vorwurf ausgesetzt zu sein: Da spielt sich eine auf, da will sich eine zum Opfer machen. Denn für viele bedeutet die Tatsache, dass sie sich äußern, im Gegenteil eine Befreiung aus der Opferrolle.

Es braucht aber auch ein Klima, in dem Männern Lernfähigkeit zugestanden wird. Es darf nicht an jedem Mann, der sich einmal sexistisch verhält, für immer das Etikett "Sexist" kleben. Und es muss auch nicht jeder einzelne blöde Spruch gleich zur Entlassung führen, solange hinterher für alle klar wird: Das war nicht ok. Denn ja, es gibt schlimmere und weniger schlimme Fälle von Sexismus. Gerade aber der ganz normale, alltägliche Sexismus ist eine Aufgabe, die noch eine Menge Arbeit erfordert.

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