Memory Books für Aids-Waisen:Seitenweise Liebe

Was an Aids erkrankte afrikanische Eltern ihren Kindern mit auf den Weg geben, wird zu ihrem wertvollsten Besitz. Über den unschätzbaren Wert der "Memory Books".

Petra Schnirch

Es ist sein Schatz, der vielleicht wertvollste Besitz in seinem Leben. Verloren wirkt Dennis auf dem wuchtigen Bett, neben einem kleinen Tisch das einzige Möbelstück in dieser düsteren Hütte in Iganga im Osten Ugandas. Der Boden besteht aus gestampfter Erde, an der Wand lehnen die Reste eines Fahrrads, das vor sich hin rostet und schon lange nicht mehr fährt. Seite für Seite blättert der zehnjährige Junge durch das vollgeschriebene Heft, sein Blick bleibt vor allem an den Fotografien hängen. Sie zeigen seine Mutter - als es ihr noch gutging. Seine siebenjährige Schwester Chrissi kauert dicht neben Dennis, aus ihren Augen spricht Angst.

Memory Books für Aids-Waisen: Dennis und seine Schwester Chrissi (Mitte, mit einer Mitarbeiterin der Selbsthilfegruppe Nacwola) haben in kurzer Zeit beide Eltern verloren. Geblieben sind Erinnerungen - und das Memory Book.

Dennis und seine Schwester Chrissi (Mitte, mit einer Mitarbeiterin der Selbsthilfegruppe Nacwola) haben in kurzer Zeit beide Eltern verloren. Geblieben sind Erinnerungen - und das Memory Book.

Das Buch, in dem Dennis und Chrissi wieder und wieder blättern, ist voller Erinnerungen - an die Kindheit, die Familie, an eine bessere Zeit. Viel mehr hat die Mutter den beiden nicht hinterlassen, als sie vor vier Jahren an Aids starb. Der Vater war da schon lange tot, ebenfalls hinweggerafft von der Seuche, die eine der großen Tragödien Afrikas ist. Memory Books heißen diese Hefte voller Erinnerungen, in Uganda schreiben HIV-infizierte Eltern darin auf, was sie ihren Kindern mit auf den Weg geben wollen. Geschichten, Wünsche, Erinnerungen.

Als die Münchner Filmemacherin Christa Graf den kleinen Dennis bei den Dreharbeiten für ihren Dokumentarfilm Memory Books vor drei Jahren in Iganga kennenlernt, ist er extrem scheu. Seine Schuhe fallen fast auseinander, für eine Schuluniform hat er kein Geld. Es ist alles zu viel für ihn; er ist gerade einmal zehn Jahre alt und muss für sich und seine Schwester sorgen. Auntie, die korpulente Tante aus der Nachbarschaft, die eine Aura von Schwermut umgibt, kümmert sich um den Kinderhaushalt, so gut es geht. Doch ihr winziger Laden wirft nicht einmal für die eigene Familie genug Geld ab, sodass sie auf dem Land bei der Feldarbeit ein paar zusätzliche Shilling verdienen muss.

Nun kommt Christa Graf noch einmal nach Uganda, um ihre mittlerweile mehrfach preisgekrönte Dokumentation endlich auch dort zu zeigen. "Dieser Film ist mein Lebenswerk", sagt die 63-Jährige. Sie will die Idee der Erinnerungsbücher unbedingt weiter verbreiten. Aus vielen Gesprächen mit Betroffenen weiß Graf, dass Kinder den Verlust eher verkraften, wenn sie ein solches persönliches Vermächtnis besitzen. Auch die Eltern selbst bekommen mit dem Schreiben der Bücher eine neue Aufgabe, sie lernen, mit der niederschmetternden Diagnose, HIV-positiv zu sein, besser umzugehen.

Das Wissen um die Wurzeln

Dennis und Chrissi bedeutet ihr Memory Book noch viel mehr - es hat ihnen die Chance auf eine Zukunft zurückgegeben. Aurea, eine 37-jährige Brasilianerin, die in Frankreich lebt, sah die Dokumentation der deutschen Filmemacherin im Fernsehen. Die Szenen mit den beiden Waisen berührten sie so sehr, dass sie sich spontan dazu entschloss, die Kinder zu suchen und ihnen zu helfen. Gemeinsam mit ihrem Mann flog sie vor sieben Monaten nach Uganda, bezahlte das Schulgeld, kaufte Kleidung und eine neue Matratze. Chrissi geht nun auf eine Privatschule, Dennis besucht ein Internat in Iganga. Er ist deutlich gewachsen und trägt jetzt stolz seine neue Schuluniform, ein fliederfarbenes Hemd mit blauer Hose. Der 13-Jährige ist noch immer sehr zurückhaltend. Das Trauma, hilflos beide Eltern sterben zu sehen, sitzt tief.

Das Memory Book, sagt Dennis, habe sein Leben verändert. Er ist ein wenig selbstbewusster geworden, redet aber immer noch fast flüsternd, wenn er von den Ausflügen mit seiner brasilianisch-französischen Patenmutter in die Hauptstadt Kampala erzählt, vom guten Essen, vom Swimmingpool des Hotels und davon, wie sehr ihn der Flughafen in Entebbe beeindruckt hat. Als ihn seine Freunde nach der Filmvorführung von Memory Books an seiner Schule drängen, sein Büchlein doch einmal mitzubringen, glänzen seine Augen, zum ersten Mal liegt Entschlossenheit in seinem Tonfall, wenn er sagt: "Ich werde es mitnehmen, aber gut darauf aufpassen, denn ich will es nicht verlieren."

Zeitdokumente der Familiengeschichte

Die Idee, solche Erinnerungsbücher zu schreiben, kam Anfang der neunziger Jahre in England auf. An Aids erkrankte, afrikanische Auswanderer wollten den Kindern fern der Heimat das Wissen um ihre Wurzeln bewahren. Sie sollten wissen, woher sie kommen, auch wenn die Eltern nicht mehr leben. Beatrice Were, Mitbegründerin der Selbsthilfegruppe Nacwola (National Community of Women Living with HIV/Aids), griff den Gedanken für Uganda auf, ähnliche Projekte gibt es in Südafrika, Kenia, Tansania.

Die Eltern, meist sind es die Mütter, hinterlassen den Kindern in diesen Zeitdokumenten ihre Familiengeschichte, sie schildern Besonderheiten aus der Kindheit, erinnern an das Lieblingsessen der Kleinen oder geben weiter, wie traditionelle Gerichte zubereitet werden - alles Dinge, die Mütter oder Großmütter später ihren Töchtern und Söhnen normalerweise selbst erzählen. Können die Eltern nicht schreiben, diktieren sie ihre Erinnerungen den Kindern oder anderen Verwandten. Zu den Aufzeichnungen kommen Fotos und Zeichnungen, etwa vom Haus oder dem Familienstammbaum.

Dennis' Mutter erzählt von ihrer behüteten Kindheit. Davon, dass Dennis als kleiner Junge Mangos über alles liebte. Und dass er schon als Baby mit Kuhmilch gefüttert werden musste, weil sie ihn wegen der Infektionsgefahr nicht stillen konnte - sie wusste da bereits, dass sie sich angesteckt hatte. Auch dass es sehr hart für sie war, anfangs mit der Diagnose klarzukommen, können ihre Kinder dort lesen: "Ich hatte Probleme mit meinem Leben. Meine Beine schmerzten, und ich fühlte mich plötzlich sehr erschöpft."

Die wichtigsten Dokumente unserer Zeit

Nun hat die Selbsthilfegruppe Nacwola die Memory-Arbeit aus finanziellen Gründen ausgesetzt. Medikamente ermöglichen vielen HIV-Infizierten, die noch vor wenigen Jahren kaum Hoffnung auf deutlich mehr Lebenszeit hatten, einen weitgehend normalen Alltag. Deshalb haben jetzt die psycho-soziale Unterstützung und die Rechtsberatung Vorrang vor den schriftlichen Testamenten für die Kinder.

Dennoch möchte Nacwola die Memory-Arbeit in Uganda fortsetzen, ergänzt um die Nachlassregelung: "In fast allen Kulturen in Uganda erben Frauen nicht, und sie können auch kein Land besitzen", sagt Maya Bertsch von Nacwola. Dies sei ein großes Problem. Viele der Frauen, die sich in der Selbsthilfeorganisation zusammengeschlossen haben, sind verwitwet. Denn häufig infizierten sich die - oftmals untreuen - Männer zuerst. Nach dem Tod des Ehemanns folgt nicht selten ein weiterer Schlag: Deren Familie vertreibt Witwe und Kinder von Hof und Land. "Landgrabbing heißt das hier", schildert Bertsch. Hat der Mann ein Testament aufgesetzt, kann die Frau jedoch einen Anwalt einschalten.

"Viel Geld braucht es nicht, um das Memory-Book-Projekt fortzusetzen", räumt Maya Bertsch ein. Ein Buch kostet etwa fünf Euro - es hat die Größe eines Schulhefts und ist mit vorgedruckten Überschriften wie "Großeltern" oder "Kindheit" versehen. Dazu kommen Ausgaben für Workshops, Fahrten und Verpflegung der Frauen. Aber selbst diese Kosten übersteigen die finanziellen Möglichkeiten der Selbsthilfeorganisation. Christa Graf hofft, dass die Filmvorführungen in der ugandischen Hauptstadt Kampala, an drei Hochschulen des Landes sowie in mehreren Dörfern und Städten ein Bewusstsein dafür schaffen, wie zukunftsweisend dieses Projekt ist. In Henning Mankell hat die Memory-Book-Idee einen bekannten Mentor gefunden. Er nannte die Bücher einmal die "vielleicht wichtigsten Dokumente unserer Zeit". Auch Christa Grafs Projekt, den Film zurück nach Uganda zu bringen, unterstützte er gemeinsam mit anderen Spendern.

Für Dennis jedenfalls hat das Erinnerungsbuch einen unschätzbaren Wert. "Meine Eltern sprechen mit mir durch das Buch. Und ich spreche mit ihnen durch das Buch." Einer der Träume des Jungen, den ihm seine Mutter mit auf den Weg gegeben hat, ist dank der Pateneltern in greifbare Nähe gerückt: eine gute Ausbildung. "Ich erwarte von dir, dass du fleißig studierst und einen guten Abschluss machst", schreibt die Mutter, er müsse ja auch für seine jüngere Schwester sorgen. Ein weiterer Wunsch von Dennis allerdings dürfte trotz Memory Book unerfüllt bleiben: Am liebsten wäre er ein international bekannter Fußballstar.

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