Mein erstes Mal (7): Marathon:Vom Brötchenholer zum Marathoniken

Einmal im Leben Marathon laufen. Davon träumen viele Hobbyläufer. Der Weg ist lang, doch er lohnt sich. Ein Erfahrungsbericht.

Hans-Jürgen Jakobs

"Warum machen Sie das?", fragt mein älterer Kollege. Er schaut dabei wie ein Psychologe, der mit einem schlimmen Tick konfrontiert wird. Es klingt, als habe er den Zusatz "... in Ihrem Alter?" verschluckt.

Marathon in Barcelona; AFP

Massenstart beim Marathon: Gefühlte Solidarität

(Foto: Foto: AFP)

Ja, gut, das ist die Frage: Warum läuft ein 51-Jähriger ohne Unterbrechung 42,195 Kilometer? Was ist besonders an einem Marathon, wo doch jeder weiß, dass in der Antike Pheidippides nach solcher Strecke in Athen tot zusammenbrach, nicht ohne vorher noch hervorgeröchelt zu haben, dass sein Dienstherr Miltiades am Strand von Marathon die persischen Angreifer besiegt habe.

Derlei akademische Fragen sind am frühen Morgen des 2. März 2008 unwichtig. Da stehen einfach nur fast 10.000 Läufer um 8.30 Uhr auf der Plaça d'Espanya in Barcelona und warten, dass es losgeht. Zum Pulk gehört auch diese kleine Lauftruppe aus München-Schwabing, die sich noch vor einem Jahr ab und an zum Sonntagslauf verabredet hat.

Und nun ist diese Freizeitriege bei einem Marathon dabei, mitten in einem Teilnehmerfeld, das von dunkelhäutigen Profiläufern angeführt ist, die gegen Startgeld 2:10 Stunden laufen. Ich habe 50 Euro Startgeld gezahlt und will 4:30 laufen. Es ist mein erstes Mal.

Wer erstmals Marathon läuft und dies anderen erzählt, wird mit Geschichten zugestopft. In sieben Monaten Vorbereitung höre ich, dass sich einer die Beine kaputt gelaufen hat. Ein anderer Marathonläufer starb abends am Fluss mitten im Lauf. Andere wiederum wurden manisch und dünn und liefen von Boston bis La Rochelle alles weg, was die Saison bietet.

Der Trainingsplan

Sabine, Melanie und Pili aus meiner Laufgruppe sind schon mehrfach Marathon gelaufen. Sie waren in Berlin, Wien oder Stockholm dabei. Sie haben erkennbar keine Schäden davongetragen, auch wenn sie keine Supersportler sind. Es kommt auf die richtige Vorbereitung an, sagen sie. Das wirkt glaubhaft. Steve sagt, er möchte es einmal - once in a lifetime - schaffen. Und Pili wollte schon lange in Barcelona laufen, im März. Es ist ihre Heimatstadt. So also sind wir, im besten gruppendynamischen Sinne, gemeinsam auf die Plaça d'Espanya gekommen.

Im August, September und Oktober liefen wir dreimal pro Woche, jeweils 30 bis 50 Minuten. Eigentlich so wie immer, nur öfter. Dann wurde der große Trainingsplan zum Schlüsseldokument im Leben. Solche Formulare kann man im Internet leicht aufstöbern. Man gibt Wettkampftermin und Wunschzeit ein, und schon existieren Zielstrecken und Intervalle, die es zu beachten gilt. Mein Trainingsplan sah von November an langsame Steigerungen vor, von 30 Kilometer die Woche auf mehr als 80 Kilometer, mit Einzelläufen von über 30 Kilometer in der Spitze. Da fehlt immer noch etwas zur Marathondistanz, das soll der Körper beim Wettkampf mit sich selbst ausmachen.

Auf der nächsten Seite: Die erste Grenzerfahrung.

Vom Brötchenholer zum Marathoniken

"Das Matterhorn des kleinen Mannes"

Marathon in Barcelona; AFP

Ein gern genommener Trick: Marathonläufe als Sightseeing-Tour betrachten

(Foto: Foto: AFP)

Die Fachliteratur, an der kein Weg vorbeiführt, gibt goldene Sätze vor. "Lächeln statt hecheln - laufen ohne schnaufen", erklärt zum Beispiel Laufguru Herbert Steffny. Er war in den achtziger Jahren Spitzenmarathonläufer. Steffny ist auch der Aphorismus zu verdanken: "Der Marathon ist das Matterhorn des kleinen Mannes."

Zum Glück war der Winter in München milde und schneefrei. Das macht die Sache mit dem Matterhorn erträglich. Langläufe im Dunkeln und Halbdunkeln vor der Arbeit sind bei Temperaturen über null Grad nicht so beschwerlich. Katzenstunden. Wer seiner Umwelt vom Marathonplan erzählt hat, bekommt ohnehin zum Geburtstag oder zu Weihnachten alles geschenkt, was man so braucht: Stirnlampe und Pulsmesser zum Beispiel.

Wer wegen der häufigen Trainingsläufe nicht zum asozialen Wesen werden will, der hat nur eine Chance: Sonntags ganz früh zu laufen, um sechs Uhr zum Beispiel, um dann um neun mit frischen Semmeln vom Bäcker zu kommen. Das sichert Akzeptanz.

Das erste Mal, als wir mehr als 20 Kilometer gelaufen sind, war eine wirkliche Grenzerfahrung. Die Strecke wollte nicht enden. Wie würde es erst in Barcelona sein? Aber es gibt wunderbare Muskelentspannungsbäder, die helfen. Und es gibt die Aussicht, ein selbstgestecktes Ziel zu erreichen.

Mit Schlinge und Schmerzen

Die letzten zwei Wochen vor dem Marathon soll sich der Körper ausruhen und Kräfte sammeln. Dann liegt die härteste Trainingszeit hinter dem Läufer. Und doch ist diese Zeit schlimm, weil jede kleine Erkältung, jeder kleine Virus einen aus dem Rennen werfen könnte. Steve zum Beispiel fällt beim Blitzeis hin und prellt sich die Schulter. Er läuft mit Schlinge und mit Schmerzen.

Sechs Wochen vor Barcelona habe ich keinen Alkohol mehr getrunken. Habe mich extrem gesund ernährt, mit Gemüse und Obst und Nudeln. Milchprodukte wurden reduziert. Kohlehydrate eingelagert. Ich stelle leider fest, dass man drei Tage vor einem Marathon-Lauf keinen Umzug machen und schwere Möbel tragen sollte. Das hätte man leicht aus der Fachliteratur erfahren können. Ich bin müde, als wir in Barcelona sind. Es geht jetzt nur noch darum, ins Ziel zu kommen. Jede Zeit ist persönliche Bestzeit. Das macht es einfach.

Vor dem Wettkampf habe ich im Morgengrauen meine Muskeln mit Öl massiert, zwecks besserer Atmung ein Tape über die Nase geklebt, noch einmal viel getrunken und Honigbrote gegessen. Vergessen habe ich den letzten Gang zur Toilette, ein unverzeihlicher Fehler, den allem Anschein nach viele andere Läufer auch begehen. Schon nach den ersten Kilometern sind die Nebenstraßen gesäumt von Freizeitathleten, die Wasser lassen.

Auf der nächsten Seite: Der Lauf.

Vom Brötchenholer zum Marathoniken

Eine Art Klimaschock

Das Schönste an einem solchen Marathon ist die schlichte Tatsache, dass der Mensch breite, wunderschöne Straßen von den Autos zurückerobert. Es ist gefühlte Solidarität, im Rhythmus mit Tausenden anderen Straßenzug um Straßenzug abzulaufen. Das neue Barcelona, das der Ingenieur Ildefons Cerdà in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts plante, sieht große Boulevards vor, umsäumt von prachtvollen Mietshäusern. Das alles kann der Marathonläufer genießen, wenn er dabei nicht zu schnell sein will. Der Tross der fast zehntausend Schwitzenden bewegt sich an Camp Nou vorbei, der Spielstätte des FC Barcelona, an den Häusern des Antoni Gaudí und an der Kirche Sagrada Família, der Unvollendeten.

In Spanien ist Laufen kein Volkssport, und nur bis Kilometer 20 jubeln größere Gruppen von Passanten zu und heizen Sambagruppen oder Rockbands den Läufern ein. Dann wird es einsam und heiß. 20 Grad hat Barcelona an diesem Sonntag. In der offenen Büro- und Hafengegend zwischen Kilometer 20 und 35 wird jeder Schritt schwer. Für Leute, die im Winter trainiert haben, ist das eine Art Klimaschock.

Natürlich werden wie bei allen Marathon-Wettbewerben alle fünf Kilometer Getränke gereicht. Aber erst spät gibt es in Barcelona Bananen, Apfelsinen oder Nüsse. Das Feld ist inzwischen langgezogen. Am Straßenrand sitzen Marathonläufer, die massiert werden müssen. Einer hat sich offenbar die Muskeln gezerrt, läuft mit steifem Bein weiter und hört dann schreiend auf. Ein älteres Paar in einer Art Turndress macht eine kurze Pause und rennt mit hohem Tempo weiter.

Sonnige Schinderei

Bei Kilometer 35, nach dem Parc de la Ciutadella, ist der Triumphbogen erreicht. Hier müsste Schluss sein. Aber es sind immer noch 7,195 Kilometer. Auf den Ramblas hat kaum einer der Touristen einen Blick für das letzte Drittel der Marathon-Karawane, die hier stundenlang durch die Altstadt zieht. Nach der Kolumbussäule geht es noch einmal leicht bergauf zum Start- und Zielpunkt Plaça d'Espanya, eine sonnige Schinderei. Irgendwann brüllt ein Spanier "uno kilometro", und es macht nichts, dass es noch zwei sind. Ganz vorne auf einer dieser von Ingenieur Cerdà gezogenen langen Straßen sind Lichter zu sehen. Das muss die Plaça d'Espanya sein.

Beim Vorbeilaufen stellt sich heraus, dass hier zwei Krankenwagen stehen. Ein Läufer und eine Läuferin liegen auf Bahren, die Schuhe sind noch festverschnürt. Das motiviert für die letzten Meter. Und dann ist die letzte Matte erreicht, über die man laufen muss, wenn die Zeit gemessen werden soll. Es sind 4:45 Stunden geworden. (Don't think twice). Melanie und Steve sind bereits im Ziel. Der Chip zwischen den Schnürsenkeln wird gelöst. Es gibt für diesen Marato Barcelona eine Medaille, mit Läufern vor Türmen, die an Sagrada Família erinnern. Später, im Internet, können sich die Teilnehmer Fotos herunterladen, die die Geschichte dieses sommerlichen März-Tags noch einmal erzählen. Das also war mein erstes Mal.

Dass der Anfänger drei Stunden Bettruhe nach einer solchen Stadterkundung braucht, ist selbstverständlich. Dass er es beim nächsten Mal besser machen will, ebenfalls.

Seit dem 2. März 2008 laufe ich in fremden Städten frühmorgens los. Über leere Straßen, die dann noch nicht Autos gehören. Das zum Beispiel ist geblieben. Das Übergewicht ist weg. Langes Laufen kann einen auf wunderbare Gedanken bringen, auf ketzerische Formulierungen und kühne Briefe, die man dann nie schreibt. Und nach Barcelona gibt es immer etwas zu erzählen und zu schreiben über Barcelona. Die Laufgruppe verbindet jetzt im Übrigen Sport mit anschließendem Kuchenessen - aus Freude am Laufen sozusagen. Vielleicht sind das die Antworten auf die Frage, warum man so etwas Verrücktes macht wie Marathon.

Mein nächstes Mal soll es in Paris geben. Oder in Berlin. Es ist dann das letzte Mal. Bestimmt.

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