Médoc-Marathon:Stark im Abgang

Laufen und saufen: Jedes Jahr wollen die Läufer beim Médoc-Marathon Sport und Weintrinken in Einklang bringen.

Michael Heine

Kilometer 5. Eiligen Schrittes trabt der Schlumpf durch das steinerne Schlossportal. Im Innern trifft er auf Pheidippides, jenen legendären Boten, der 487 vor Christus die frohe Kunde vom Sieg der Athener über die Perser brachte, ehe er auf dem Areopag in Athen leblos zusammenbrach.

Medoc-Marathon; Michael Heine

À la vôtre! Auf Energy-Drink und Funktionsshirt verzichtet der laufende Weinkenner.

(Foto: Foto: Michael Heine)

Dieser Pheidippides jedoch - Knollennase, behaarte Säbelbeine, Tennissocken - steckt noch voller Vitalkräfte. "À la vôtre", raunt er dem Schlumpf entgegen, der seinerseits den Toast mit einem markigen "Santé" erwidert und den rotweingefüllten Plastikbecher in einem Zug leert. Noch ehe die beiden ungleichen Vertreter der abendländischen Geistesgeschichte einvernehmlich die Szenerie verlassen, drängt ein schweißnasser Jesus mit geschultertem Styropor-Kreuz an ihnen vorbei, um sich ebenfalls mit dem vergorenen Rebsaft zu stärken.

Schlumpf, Jesus und Pheidippides sind drei von insgesamt 8500 Teilnehmern des 23. "Marathons des Châteaux du Château", einem karnevalesken Dauerlauf, der alljährlich im September stattfindet und bei Läufern und Säufern rund um den Globus Kultstatus genießt.

Denn der Médoc-Marathon führt an 55 der besten Weingüter Frankreichs entlang und gibt Teilnehmern wie Zaungästen ausgiebig Gelegenheit, prämierte Crus, Austern oder Stopfleberpasteten am Rande der Strecke zu probieren. Appellationen wie Pauillac, Margaux oder Graves, die bei jedem Weinliebhaber den Korkenzieher in der Tasche aufgehen lassen - hier sind sie auch für den ganz gewöhnlichen Freizeittrinker hautnah erlebbar.

Laufen und saufen, das klingt zunächst einmal krank. Und in gewisser Weise ist es das auch. Denn sowohl übertriebene Leibesübungen als auch unbotmäßiger Alkoholkonsum sind nicht gerade das, was der Arzt einem verschreibt. In der Psychopathologie wird Marathonlaufen von einigen Autoren gar als Spielart des Selbstverletzenden Verhaltens (SSV) gehandelt.

Der Reiz, solcherlei Unannehmlichkeiten dennoch auf sich zu nehmen und die monumentale Distanz von 42,195 Kilometern laufend und saufend zurückzulegen, lässt sich am ehesten biochemisch erklären. Denn wann immer Extremsportler oder Trinker ihrem Hobby mit dem nötigen Ernst nachgehen, setzten sie Endorphine frei, die kurzfristig sehr glücklich und langfristig abhängig machen.

Was aber passiert, wenn der Mensch - wie beim Médoc-Marathon - von zweierlei Seiten gleichzeitig mit Endorphinen geflutet wird? Phänotypisch betrachtet könnte man schlussfolgern: Erwachsene Menschen verkleiden sich als Babyflasche, Schlumpf oder Jesus und hetzen bei brütender Hitze der kollektiven Ekstase entgegen.

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Stark im Abgang

Kilometer 10. Gerade laufen die "wilden Hühner" im Innenhof des Château de Beychevelle ein. In ihrer ostwestfalischen Heimat heißen sie eigentlich Laufgemeinschaft LC Solbad Ravensberg.

Für den Médoc-Marathon jedoch hat sich die 53-köpfige Gruppe auf Betreiben der weiblichen Mitglieder Flokati-Kappen mit Hahnenfuß-Ohren und Filzschnäbeln geschneidert. Dazu schwarz-rot-goldene Tüllröcke über die vom Schweißfluss verblassten Nylon-Leggins - fertig ist das wilde Huhn.

Als sie angeführt von ihrem ersten Vorsitzenden Siegfried Boschulte an der Degustationsstation einfallen, herrscht berstender Frohsinn. Monatelang haben sie auf diesen Tag hin trainiert und dabei sogar Weinverkostungen in ihren Trainingsplan integriert. Nun gehen sie in die Vollen.

Nur Phillippe Blanc, der Winemaker des gastgebenden Château Beychevelle, ist sauer. Nicht etwa auf die wilden Hühner, die verhalten sich tadellos. Aber die beiden Marienkäfer am anderen Ende des Probiertresens spielen falsch. "Sie betrügen", bemerkt Blanc, "Sehen Sie's?"

Zusammenbrechen, weil es Spaß macht

Wir nehmen die Marienkäfer ins Visier. Auf den ersten Blick ist ihnen kein Fehlverhalten anzuhängen: sie feixen, klopfen sich auf die Schulter und kippen den Rotwein hinunter als wäre es Fanta. Alles ganz normal. Für einen Moment scheint Blanc meine Ratlosigkeit auszukosten, dann lüftet er das Geheimnis: "Die laufen gar nicht, sondern trinken nur", ätzt er und deutet mit dem Finger auf die beiden. "Sehen Sie, ihre Kleidung ist trocken, kein Tropfen Schweiß. Solche Leute kenne ich. Die können wir hier nicht brauchen, da hört der Spaß auf."

Spaß. Darum geht es beim Médoc-Marathon, es ist gewissermaßen Mantra und Katharsis der als verbissen und autistisch verschrieenen Jogger-Community. Wenn erwachsene Männer sich Plastikbrüste und Mieder umschnüren oder in selbstgebastelter Ritterrüstung fast 50 Kilometer über bockharten Asphalt laufen, sich dabei im günstigsten Falle wunde Brustwarzen ("Jogger's nipple"), aufgescheuerte Oberschenkel und Fußpilz holen oder - im schlimmeren Falle - dehydriert und mit Muskelkrämpfen zusammenbrechen, dann einzig und allein weil es Spaß macht.

Jetzt wird es aber langsam Zeit für ein Gläschen Château Beychevelle. 60 Prozent Cabernet, 30 Prozent Merlot, 10 Prozent Cabernet Franc, sagt Monsieur Blanc. Sechs Monate im Barrique ausgebaut, der Struktur wegen. Fruchtig, nicht zu schwer. Gar nicht schlecht.

Kilometer 16. Sechs Kilometer später vor dem Château Belgrave. Die Trommelschläge der Kapelle mischen sich mit dem Gejohle der aufgekratzten Läufer. Ein Indianer tanzt mit hochgerissenen Armen vor der Band, eine weitere Rothaut gesellt sich zu ihm. Fotoapparate klicken. Unvergessliche Momente werden zu unbezahlbaren Motiven; werden zu Hochglanzabzügen, die dann, mit Bildunterschriften wie "Ich und Sigi als Indianer im Weinschloss" versehen, im heimischen Fotoalbum landen und Vaters Selbstwahrnehmung des trinkfesten Haudegens auf ewig zementieren.

Noch bevor die Indianer die Chance erhalten, die Veranstaltung ins Woodstockhafte abdriften zu lassen, entert eine Horde Wikinger den Garten. Fast 30 Stück sind es, die mit Kampfgeheul, ein 500 Kilogramm schweres Holz-Schiff vor sich her schiebend, sogleich Kurs auf den Wein nehmen. Wie in einer Zeitraffer-Aufnahme leert sich der Probiertresen. Man sollte sich also besser noch ein Gläschen sichern, denn am Horizont zeichnen sich bereits die Flokati-Köpfe der wilden Hühner über den Weinreben ab. Und deren Durst ist legendär.

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Stark im Abgang

Kilometer 18. Das imposante Château Larose Trintaudon hat seine Tore geöffnet. Mit 175 Hektar Anbaufläche ist es eines der größeren Weingüter in der Region, belehrt der junge Mann, den man auf den ersten Blick für den Sohn des Gutsbesitzers halten könnte. Doch Pierre Amouroux - blaues Jackett, barfuß in Cognac-farbenen Weichleder-Slippern - steht in Wahrheit bei den "Assurances Générales de France", einem zur Allianz-Gruppe gehörenden Versicherungsunternehmen, auf dem Lohnzettel.

Die Versicherung kaufte das Schloss 1986 und betraute Amouroux neben allerlei Papierkrieg auch mit der Außendarstellung seines Brötchengebers. Und dem geht es, anders als das Kleingedruckte in den Hausrats- oder Haftpflichtversicherungen dies vermuten ließe, vor allem um eines: Offenheit. "Man muss die Châteaus demystifizieren", doziert Amouroux. "Früher fand das Schlossleben im Verborgenen hinter hohen Mauern statt, heute gibt es diese Mauern nicht mehr."

Dafür ist das pompöse Anwesen mit dem Prachtschloss aus dem Jahre 1858 noch immer von einem übermannshohen Eisenzaun umgeben. Es wird heute vornehmlich zu Repräsentationszwecken benutzt. Immerhin gibt es hier Wein: Château Larose Trintaudon. 60 Prozent Cabernet, 40 Prozent Merlot. Je nach Jahrgang zwischen 85 und 87 Parker-Punkte. Laut Werbung handelt es sich um "kaltes, erdiges, tintiges Bouquet, Nelkenköpfe und Waldholunder. Im Gaumen fleischig, kapselige Noten". Prima. Die Allianz gibt einen aus.

Kilometer 27. Château Lafite Rothschild. Drei Worte von fast biblischem Gewicht. Gäbe es den heiligen Gral der Önologen, er wäre in der kalkhaltigen Erde derer von Rothschilds vergraben. Rund 240000 Flaschen Grand Cru Classé presst die Dynastie um das derzeitige Oberhaupt Eric alljährlich aus seinen hundert Hektar Anbaufläche.

Der 2005er Jahrgang geht mit rund 700 Euro über den Ladentisch. Dementsprechend groß ist der Andrang an der Degustationsstation. Auch Frank und Sonja, zwei von insgesamt 328 deutschen Teilnehmern beim Médoc-Marathon, wollen sich einen echten Rothschild nicht entgehen lassen. Die 30 Kilometer und rein rechnerisch 17 Weinproben, die bereits hinter ihnen liegen, machen den mit quergestreiften Badeeinteilern und Schnauzbart kostümierten Mittfünfzigern augenscheinlich nichts aus.

Im Gegenteil: Frank scheint dem "Runner's high" nahe zu sein, jenem schlagartig einsetzenden Hochgefühl, das den Langstreckenläufer glauben macht, unbesiegbar und eins mit dem Kosmos zu sein: "Die Menschen singen, sind fröhlich und man lernt unglaublich viele interessante Leute kennen." Seine Frau sekundiert: "Beim Trinken!" - Er: "Ja! Hier interessiert nicht wie schnell der erste ist, sondern wie viel Promille der letzte hat, das macht den Unterschied."

Kilometer 35. Während die erstplazierten Läufer schon vor mehr als zwei Stunden das Ziel in Pauillac erreicht haben dürften, herrscht im Sanitätszelt unweit des Château Phélan Ségur Lazarett-Stimmung. Im Akkord kneten und drücken die freiwilligen Helfer übersäuerte Läufer-Beine, sprechen vor Erschöpfung irren Menschen Mut zu, verteilen Wasserflaschen und Durchhalteparolen. Vor dem Zelt wartet Homer Simpsons Ehefrau Marge entkräftet und mit verlaufener Schminke auf eine freie Massage-Liege.

Die Sonne brennt ihr auf die blaue Hochfrisur. Hinter ihr zeichnet sich am Horizont die Silhouette eines alten Bekannten ab: ein Schlumpf, ein Schlumpf! Seinem unrunden Bewegungsablauf nach zu urteilen hat er einen Beinschuss oder Ärgeres erlitten. Hatte das Wikingerschiff am Ende Kanonen an Bord?

Allmählich dünnt sich das Feld aus. Ein verirrter Indianer hier, ein Charlie Chaplin da. Sie wirken seltsam fremd in einer Landschaft, die aussieht als wäre sie mit Kamm und Nagelschere bearbeitet. Auch die Rest-Aromen des Lafite-Rothschild haben sich inzwischen verflüchtigt und hinterlassen einen samtigen Belag auf der Zunge. Bis ins Ziel sind es noch etwa sieben Kilometer. Die perfekte Gelegenheit für einen ruhigen Spaziergang.

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