Medizin und Wahnsinn (72):Kleine Schwächen

Seit sich der Kollege hat sterilisieren lassen, nehmen ihn angeblich die Frauen nicht mehr wahr. Quatsch. Vermutlich liegt es an seinem Alter.

Werner Bartens

Natürlich sah man ihm nichts an. Wie auch? Es wäre ja höchstens eine klitzekleine Narbe zu entdecken gewesen, dort, wo man Narben normalerweise kaum entdecken kann. Denn die Haut wirft sich hier zu einer runzeligen Textur in Krokoleder-Optik auf, in der sich fast jede Narbe gnädig verstecken lässt. Außerdem schaut selten jemand dort so genau hin.

David von Michelangelo Foto: AP

Den Mann in der Blüte seines Lebens verkörpert Michelangelos David. Später kommen die Alterserscheinungen - und das kann sogar gut sein.

(Foto: Foto: AP)

Trotzdem klagte der Kollege auf meinem gelben Sofa darüber, dass er sich als potentieller Sexualpartner nicht mehr richtig wahr- und ernstgenommen fühlt, seit er sich vor zwei Jahren hat sterilisieren lassen. So wie Leute mit Pickeln glauben, alle Welt starre nur auf ihre Pickel, glaubte er, dass ihn keine Frau mehr ansah wegen des unsichtbaren Schnitts im Schritt.

Er war wie besessen und redete sich in Rage. Vielleicht würden die Frauen spüren, dass er nicht mehr zum Erzeuger tauge. So wie Hunde spüren können sollen, dass jemand Angst hat? Originell, aber abwegig.

Er kam dann noch mit dieser fadenscheinigen Studie, wonach Frauen sich in der Zeit um ihren Eisprung - unbewusst natürlich - aufreizender anziehen als an den restlichen Tagen ihres Zyklus. Und dass sie Männer auch eher riechen können, wenn ihre Fruchtbarkeit gerade auf dem Höhepunkt ist.

Ich wollte ihm nicht sagen, dass die fehlende Nachfrage, die er so schmerzlich empfand, auch damit zu tun haben könnte, dass an ihm zwar keine Narben am Skrotum, aber dafür Alterungserscheinungen zu entdecken waren.

Stattdessen erinnerte ich ihn daran, dass die operativ entstandene Lücke in seinem Samenleiter ihm auch neue Freiheiten geschenkt hätte. Aber offenbar ist es wenigen Menschen gegeben, den Nutzen körperlicher Defizite zu erkennen, die sich mit der Zeit einstellen oder die - wie in diesem Fall - freiwillig gewählt sind.

Viele Menschen werden beispielsweise großzügiger gegenüber Haushaltsdreck, Staub und organischen Lebensspuren, wenn ihre Sehkraft spätestens mit 40 nachlässt. Sogar Putzteufel können dann generös über manche Schlieren hinwegsehen. Und eine gewisse Schwerhörigkeit für hohe Töne, die sich ebenfalls in mittleren Jahren einstellt, kann in privaten Auseinandersetzungen sogar hilfreich sein.

Altersdämpfung im Ohr

Wenn Falten die Schützengräben der Haut sind, sollte man die Altersdämpfung im Innenohr als Luftschutzkeller für den Fall des partnerschaftlichen Stellungskriegs nicht geringschätzen. Stattdessen lamentieren die Menschen, dass dieses oder jenes nicht mehr richtig funktioniert und sie alt werden.

Es hilft, gelassener und optimistischer mit den natürlichen Alterungsprozessen umzugehen. Das gilt selbstverständlich nicht für Krankheiten. Die Überschrift einer Presseerklärung, die kürzlich ins Haus kam, lag in der Formulierung völlig daneben. "Beinamputation - wie geht es weiter?" ist - trotz allen Bemühens um eine positive Grundhaltung - nicht die passende Wortwahl für Menschen, denen die unteren Gliedmaßen fehlen.

Anders verhält es sich, wenn Menschen darauf bestehen, dass sie kränker sind als sie wirken und ihre Beschwerden nicht drastisch und quälend genug gewürdigt werden.

Vor einiger Zeit habe ich über das chronische Erschöpfungssyndrom geschrieben, eine ominöse Erkrankung, für die Mediziner bisher keine rechte Ursache und Erklärung gefunden haben. Unvorsichtigerweise habe ich ausgeführt, dass die Betroffenen - neben vielen anderen Symptomen, die sie quälen - ständig übermüdet und angestrengt sind.

Daraufhin bekam ich wochenlang von einem Menschen, der offenbar an dem Syndrom litt, Briefe, Anrufe und umfangreiches Informationsmaterial. Die Schreiben waren ausführlich, und am Telefon erregte sich der Mann massiv über die lapidare Beschreibung.

"Übermüdet!? Das ist viel schlimmer!", schrie er mich an. Jetzt konnte ich verstehen, warum der Mann so erschöpft war.

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