Medizin und Wahnsinn (50):Herbstlicher Teufelskreis

Das Grau, die Ödnis, aber vor allem die tosenden Laubsauger - der Herbst kann einem die Tränen in die Augen treiben und irgendwie krank machen.

Werner Bartens

Das Herbstlaub, die Blätter, der Nebel. Dieses aufdringliche Welken und Vergehen kann einen schon wahnsinnig machen. Es waren trotzdem eher ungewöhnliche Beschwerden, die sie hatte. Sie setzte sich auf mein gelbes Sofa und hielt sich die ganze Zeit die Hand auf den Bauch. In mahlenden Bewegungen streichelte sie sich gegen den Uhrzeigersinn.

Laubsauger; iStockphotos

Früher wurde das Laub geräuscharm mit dem Rechen zusammengetragen, heute wird viel laute Luft darum gemacht.

(Foto: Foto: iStockphotos)

In der Gegend, wo der Kopf der Bauchspeicheldrüse und der Zwölffingerdarm in der Tiefe zu vermuten waren, hielt sie manchmal inne. Dieses Bewegungsmuster führen üblicherweise nur Frauen aus, die seit wenigen Stunden wissen, dass sie schwanger sind. Das war bei ihr nicht der Fall.

Sie hatte Probleme mit dem Herbstlaub. Es war so laut. Nicht das Laub selbst, das nicht, aber die städtischen Entsorger lagen ihr ständig in den Ohren. Unter ihrem Schlafzimmerfenster schien sich ein Treffpunkt der Laubbläser etabliert zu haben. Das sind die Nachteile bevorzugter Wohnlagen. Morgens, mittags, abends, sogar am Wochenende war das Gepuste zu hören. Sie konnte sogar unterscheiden, ob das Gerät gerade als Laubbläser oder Laubsauger sein Werk verrichtete.

Sie hatte sich in die Sache hineingesteigert. Sie wusste inzwischen sogar, dass es Geräte gab, die einschüchternde Namen wie Hurricane, Grizzly oder Gloria Tornado Vario hatten. Der Name Starmix berührte sie eher unangenehm. Sie wurde immer reizbarer, sah sich als hilfloses Opfer den herbstlichen Verwehungen und Lärmbelästigungen ausgeliefert.

Es ist die alte Geschichte: Die Frösche, die in Nachbars Teich quaken, rauben einem den Schlaf. Wird im eigenen Garten ein Tümpel angelegt, erscheint das Gequake hingegen als reinster Wohlklang, der nie mehr den Schlummer stört.

Tinnitus oder Laubbläserorchester?

Sie entwickelte Symptome. Überraschenderweise bekam sie es an den Ohren. Jedenfalls am Anfang. Sie wusste nicht genau, ob es sich bei dem Dauerton um das persistierende Rauschen des Laubbläserorchesters vor ihrem Fenster handelte, oder ob sie sich einen Tinnitus eingefangen hatte. Mal glaubte sie an einen Riss im Trommelfell, dann vermutete sie in einem Rückfall in frühkindliche Geborgenheitsrituale sogar eine Mittelohrentzündung.

Jedenfalls schluckte sie irgendwann Antibiotika. Gegen den Druck vor, auf und in dem Ohr, gegen die mögliche Entzündung in der Mitte des Ohres, gegen Alles. Ihr subjektives Ohrengefühl besserte sich kaum, dafür hatte sie jetzt unklare Bauchschmerzen. Als sie das sagte, richtete sie sich plötzlich sehr gerade auf meinem gelben Sofa auf und begann wieder mit antizyklischen Mahlbewegungen auf ihrer Bauchdecke.

Gegen das Unwohlsein im Bauch, das bestimmt auf die Antibiotika zurückzuführen war, hatte sie Säureblocker genommen. Hilfreiche Medikamente, die nur den Nachteil haben, dass sie bei besonders sensiblen Menschen auf die Ohren gehen können. Bei ihr gingen sie auf die Ohren. Da war dieser Druck, manchmal auch gepaart mit Schwindelgefühlen. Sie überlegte, ob sie vielleicht wieder Antibiotika nehmen sollte, die hatten ihren Ohren zuletzt gut getan.

Schließlich entschied sie sich doch anders und wählte die Konfrontationstherapie, eine aggressive Behandlungsform. Sie kaufte sich einen Laubbläser, so ein kombiniertes Modell, das saugen und blasen kann. Ich wollte sie warnen. Man weiß ja, wie das enden kann. Gerade im Herbst sind die psychiatrischen Kliniken voll mit Patienten, die eine Beziehung zu ihrem Laubbläser eingegangen sind. Gerhard Polt hat das Tabuthema mit seinem Stück "Offener Vollzug" dem Schweigen entrissen.

Polt spielt in einer Szene einen Patienten, der sich für den Papst hält und der versucht, mit dem Laubbläser Ordnung in die Welt und in das herbstliche Durcheinander zu bringen. Sein Schlachtruf: "Avanti Ventilazione."

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