Medizin und Wahnsinn (27):Der war's! Der war's!

Gemeinhin sucht man einen Arzt auf, weil man seine Hilfe benötigt. Trifft man ihn aber unfreiwillig außerhalb der Praxis, kann es mitunter sehr peinlich werden.

Werner Bartens

"Rezepte schreiben ist leicht, aber im übrigen sich mit den Leuten verständigen, ist schwer", heißt es in Kafkas Erzählung "Ein Landarzt". Die Geschichte geht nicht gut aus für den Doktor, wobei unklar bleibt, ob es vielleicht daran liegt, dass der Mann weder Kurse in psychosomatischer Grundversorgung noch ein Kommunikationstraining für Mediziner absolviert hat.

Scham; iStockphotos

Keine Angst, "'sist nur ein Arzt, 'sist nur ein Arzt!"

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Trotz vielfältiger Fortbildungsmodule für Doktoren stimmt Kafkas Beobachtung noch immer, dass nicht vielen Ärzten die Gabe der Rede gegeben ist.

Sie reden mal zu wenig, mal zu unverständlich, mal zu gefühllos - oder sie reden ohne Unterlass, sodass die Patienten kaum zu Wort kommen.

Allerdings drohen nicht alle Kranken und Angehörigen mit so rabiaten Gegenmaßnahmen, wenn sie sich vom Arzt unverstanden oder schlecht behandelt fühlen, wie Kafka es beschreibt: "Entkleidet ihn, dann wird er heilen. Und heilt er nicht, so tötet ihn! 'Sist nur ein Arzt, 'sist nur ein Arzt." Damit der Arzt nach der Therapie nicht nackig dasteht oder gar tot daliegt, gibt es heutzutage zum Glück medizinische Schlichtungsstellen.

Scheue Distanz an der Käsetheke

Es gibt allerdings Situationen, in denen man als Patient nichts mit medizinischem Personal zu tun und zu reden haben möchte - egal, wie es sich dabei anstellt. Das gilt besonders für die Momente im Leben, die sich außerhalb von Praxis oder Klinik abspielen. Gut, den Chirurgen, der das Schienbein wieder ausgerichtet oder den Orthopäden, der den Meniskus gefräst hat, den sieht man mit einer Mischung aus Respekt und scheuer Distanz auch an der Käsetheke gerne.

Heikler wird es da schon mit dem Hausarzt, der zuverlässig Krankschreibungen ausgestellt hat und den man nun überraschend an einem Werktag im Spaß- und Erlebnisbad trifft. Den Schönheitschirurgen, der dem flachen Gesicht etwas Profil verliehen und die Lippen aufgepolstert hat, will man hingegen weder auf einer Abendgesellschaft noch beim Speed-Dating treffen.

Noch peinlicher kann es werden, wenn es um intime Details der Arzt-Patienten-Beziehung geht. Ein Leser aus Norddeutschland beklagte sich kürzlich in einem Brief darüber, dass sein Arzt in einer kleinen Ortschaft immer - wirklich immer - seine Sprechstundenhilfe dabei habe, damit sie Besprochenes, Diagnosen und Verordnungen in den Computer eingibt.

Er wurde nicht konkret, aber es ging wohl auch um Körperregionen, die neuerdings großräumig als Feuchtgebiete umschrieben werden. Zwar seien die jungen Frauen, die in der Praxis arbeiten, wie die Ärzte zur Verschwiegenheit verpflichtet, aber in dem Dorf, in dem es sonst nicht viel zu erzählen gebe, würden sie sich bestimmt mit den Freundinnen darüber austauschen, was welchem Nachbarn unter der Gürtellinie juckt.

Ein anderer Leser wurde von seinem Arzt beim Stadtteilfest angesprochen. Der tat vertraulich und raunte dem Mann ins Ohr, ob das Brennen beim Wasserlassen nachgelassen habe. So was will man zwischen Grillwurst und dem Schminkstand für Kinder nicht hören.

Es kann noch schlimmer kommen und der Patient sogar zum Gespött werden. Auf meinem gelben Sofa saß vor ein paar Tagen der Kollege, der einst mit einer Maulsperre, die er sich beim Gähnen zugezogen hatte, in die Klinik musste. Die Röntgenassistentin habe schon so amüsiert geschaut, als sie nach der Behandlung eine Aufnahme von seinem Kiefergelenk anfertigte. Ein paar Tage später kam es dann in der Stadt zu seiner seltsamen Begegnung. Der Kollege ging an einem Eiscafé vorbei und plötzlich lachten ihn mehrere junge Frauen eher aus als an. Eine zeigte auf ihn - es war die Röntgenassistentin - und rief feixend: "Der war's, der war's."

"So sind die Leute in meiner Gegend. Immer das Unmögliche vom Arzt verlangen", schreibt Kafka. Nein, es geht nicht um das Unmögliche. Es geht manchmal nur um ein bisschen Diskretion.

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