Medizin aktuell:Kummerspeck und Leberläuse

Mehr denn je hängt die Gesundheit von der Psyche ab. Was Hippokrates längst wusste, entdecken Mediziner heute wieder.

Martina Scherf

"Haben Sie Stress?" Die Frage des Orthopäden, der das lädierte Rückgrat seines Patienten beugt und streckt, kann ja wohl nur rhetorisch gemeint sein. Zähneknirschend stößt der Gequälte ein "Ja, vielleicht", hervor, da wird er schon in den Röntgenraum bugsiert. Wer hat denn heutzutage keinen Stress? Aber muss deswegen gleich die Bandscheibe ausrasten?

Medizin aktuell: "Des Menschen Seele gleicht dem Wasser: Vom Himmel kommt es, zum Himmel steigt es, und wieder nieder zur Erde muss es, ewig wechselnd." Johann Wolfgang von Goethe

"Des Menschen Seele gleicht dem Wasser: Vom Himmel kommt es, zum Himmel steigt es, und wieder nieder zur Erde muss es, ewig wechselnd." Johann Wolfgang von Goethe

(Foto: Foto: Getty Images)

"Wir haben früher härter gearbeitet", sagt die Landfrau Anneliese Holler, die drei Kinder groß gezogen und die eigenen Eltern betreut hat, sich um eine Schar Enkel kümmert und nebenbei Feld und Garten bestellt, eine Ferienpension allein betreibt, Marmelade einkocht und Tischdecken bügelt, und, wenn Not am Mann ist, ihrem Mann in der Schreinerwerkstatt hilft. "Aber psychischen Stress hatten wir nicht. Deshalb waren wir gesund."

Ist es so einfach? Die moderne Medizin erkennt zunehmend Zusammenhänge zwischen psychischen Belastungen und körperlichen Symptomen. Der Volksmund kennt derlei Zusammenhänge: "Welche Laus ist Dir über die Leber gelaufen?", das klingt noch harmlos, aber wenn einem "etwas schwer im Magen liegt" oder "an die Nieren geht", kann das durchaus schlimm werden. Dass sogar ein chronischer Schnupfen damit zu tun haben kann, dass man von bestimmten Lebensumständen einfach "die Nase voll hat", davon sind psychosomatische Mediziner längst überzeugt.

Eine schwedische Studie hat gerade ergeben, dass einsame Frauen häufiger am Herzen erkranken, übergewichtiger sind ("Kummerspeck" anlegen), öfter Diabetes bekommen. Noch schlechter geht es allerdings Frauen, die in einer Stress-Beziehung leben - sie bricht ihnen buchstäblich das Herz. Paarglück als Lebensversicherung? Durchaus, meint Professor Michael Ermann.Einsamkeit ist immer häufiger ein Lebensumstand, der krank macht, gerade auch bei alten Menschen.

Auch die zwölf Prozent der Deutschen, die unter chronischen Schmerzen leiden, wären besser beraten, wenn sich einer ihrer seelischen Konflikte annähme. Doch bis ein Orthopäde, Neurologe oder Chirurg sich an dieses Thema wagt, vergehen im Schnitt sieben bis acht Jahre, belegt eine Untersuchung der Universität Mainz. Im Rahmen dieser Studie nahmen 150 Patienten an einer ambulanten Gruppen-Psychotherapie teil. Und siehe da: Zwei Drittel von ihnen berichteten nach sechs Monaten von deutlicher Linderung ihrer Symptome bis zu völliger Schmerzfreiheit.

Boom der Ratgeber-Literatur und des Schamanismus

Die meisten Mediziner sind in Psychofragen nicht ausgebildet. Und Patientengespräche werden von den Kassen kaum honoriert. Kein Wunder, dass die Alternativmedizin boomt. Der Arzt Rüdiger Dahlke gehört auf dem Sektor der spirituellen Heiler zu den erfolgreichsten in Deutschland. Er bietet alle möglichen Psychotherapien von Fastenseminaren über Zen-Meditation bis zu Reinkarnationssitzungen an. Jede Krankheit ist ein Signal und hat ihren Sinn, so seine radikale These.

Seine Bücher ("Krankheit als Weg", "Der Körper als Spiegel der Seele" und viele andere) haben weltweit Millionenauflage. "Wir müssen Verantwortung für unser Leben übernehmen. 'Responsibility', das englische Wort drückt es ja aus: Die Fähigkeit, zu antworten", sagt Dahlke, der sich vor 30 Jahren von der Schulmedizin verabschiedet hat und für jedes Wehwehchen ein Spezialprogramm anbietet. Selbstverständlich hat Dahlke auch für die neue Volkskrankheit Depression eine Erklärung: "Wir lassen uns heute keine Zeit mehr zu trauern. Wir verdrängen Konflikte, statt sie anzuschauen. Dabei haben die großen Helden wie Odysseus, Äneas, Orpheus, ihre Nachtmährfahrten erlebt und dabei an Größe und Bedeutung gewonnen."

Das Wissen über das Zusammenspiel von Psyche (griechisch "Atem, Hauch, Seele") und Soma ("Körper") ist so alt wie die Medizin selbst. Schon Hippokrates wusste, wie wichtig ein harmonisches Liebesleben für die Gesundheit ist. Der Perser Avicenna, dessen medizinischer Kanon bis in die Neuzeit auch im Abendland gültig war, beschrieb unter anderem den positiven Einfluss von Freude und Musik auf den Körper. Erst mit dem Industriezeitalter kam die Trennung von Körper und Seele, auch in der Medizin. Doch irgendetwas scheint da auf der Strecke geblieben zu sein.

Mehr Raum für die Seele

Ein Bedürfnis wird nicht mehr befriedigt, viele Menschen fühlen sich beim Arzt nicht mehr als ganzer Mensch, sondern nur noch als Fall wahrgenommen. Die Alternativ medizin profitiert davon. Die Ratgeber verkaufen sich fast ebenso gut wie Mobiltelefone.

Von den Klassikern wie C.G. Jung ("Der Mensch und seine Symbole") oder Viktor Frankl, dem Begründer der Logotherapie, von dem der Satz stammt "Sofern der Arzt praktiziert, geschieht Metaphysik", über Erich Fromm ("Haben oder Sein") und Paul Watzlawicks "Anleitung zum Unglücklichsein" bis zu Dahlke und der nicht minder populären Amerikanerin Louise Hay ("Gesundheit für Körper und Seele") oder dem Weltreisenden, Schamanenforscher und Dokumentarfilmer Clemens Kuby ("Selbstheilungs-Navigator") - sie alle versuchen, der Seele mehr Raum zu verschaffen.

Und sicher hatte auch die heilige Theresa von Avila recht, als sie sagte: "Wir müssen gut sein zum Körper, damit die Seele gerne in ihm wohnt".

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