Manfred Schell: Am Bodensee:"Streik - und ich bin auf Kur!"

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In Deutschland wird wieder gestreikt - und Gewerkschaftsboss Manfred Schell weilt zur Kur am Bodensee. Ein unerträglicher Zustand. Ein rein fiktives Protokoll.

Jürgen Schmieder

Ein Kurhotel am Bodensee. Es ist Donnerstagmorgen. Gewerkschaftsboss Manfred Schell hat gerade sein Frühstück beendet. Es gab Müsli und grünen Tee. Der Gast trägt einen weißen Bademantel und Filzpantoffeln. In der linken Hand hält er die Bild- Zeitung, in der rechten eine ungestopfte Pfeife. Er ist auf dem Weg zur ersten Behandlung des Tages.

Manfred Schell: am Bodensee auf Kur. (Foto: Foto: dpa)

Ärzte, Schwestern, Patienten gehen an ihm vorbei, grüßen freundlich, schauen ihm hinterher. Der Gewerkschaftsboss aber denkt nach.

Ist das langweilig hier! Überall wird gestreikt. Der heftigste Streik in der Geschichte der Bahn! Und ich bin nicht da! Ich muss ja auf Kur gehen. An den Bodensee.

Ruhe in Radolfszell ist eine Fiktion, wenn die Züge stehen. Manfred Schell versteht nur "Bahnhof", als eine Schwester ihn anspricht und die Kamillen-Anwendung empfiehlt.

Ich muss mir wirklich keine Sorgen machen. Ich habe meine Lokführer gut eingestimmt und im Fernsehen nochmal gesagt: "Die sind nicht reif für einen Streik. Die sind überreif für einen Streik!" Das hat gesessen.

Das hat der Mehdorn bestimmt auch gesehen. Dieses Rumpelstilzchen auf dem falschen Gleis, dessen Wortschatz aus "Bilanz" und "Börse" besteht. Für die Bahn hat der so viel Leidenschaft wie ich für mein Müsli mit Rosinen oder für Kamillenbäder.

Die Hände des Kurgastes überzieht ein leichter Schweißfilm, die Druckerschwärze von Bild verwischt.

Ärgert mich das, dass ich jetzt nicht an vorderster Front stehen kann, es sähe doch so gut aus: Pfeife im Mund, ein Lokführer mit Plakat neben mir, im Hintergrund ein Zug mit Transparent: "Dieser Betrieb wird bestreikt". Hätte wieder ein tolles Bild ergeben. Aber ich sitze ja hier und trinke Tee. Grünen Tee. Zur Beruhigung, sagen die hier.

Telefonate werden nicht durchgestellt, ein Kamerateam von RTL ist schon am frühen Morgen vom Klinikrasen verwiesen worden.

Sogar das Handy wollten sie mir verbieten. Da habe ich der Kurschwester aber mal gesagt: "Ich habe nur diesen einen Schuss. Der muss jetzt sitzen. Bomm, bomm, bomm." Wollte sie nicht kapieren, da habe ich einfach nur gesagt: "So, Abmarsch!"

Dann bin ich nach draußen und habe heimlich den Claus Weselsky angerufen.

Gute Nachrichten: Der Regionalverkehr im Osten liegt lahm, in München und Frankfurt/Main fährt kaum eine S-Bahn, mehr als hunderttausend Pendler kamen zu spät zur Arbeit. Tut mir wirklich leid für alle, die heute nicht pünktlich sein konnten. Ehrlich! Aber ein bisschen gefreut hat mich schon, wie das funktioniert. Wie meine kleine Gewerkschaft den gesamten großen Schienenverkehr zum Erliegen bringt. Macht mich irgendwie ein bisschen stolz.

Was habe ich mich abgerackert für diesen Tag. Als Rohrbläser damals Ruß gepustet, als Heizer 20 Tonnen Kohle pro Schicht geschoben, als Viehwagenreiniger auf Knien durch Schweinewagen gerutscht. Niemals einen Tag gefehlt! 50 Jahre lang! Kein Wunder, dass ich nun auf Kur muss.

Manfred Schell schaut auf die vielen, noch halb eingewickelten Blumensträuße an der Rezeption.

Heute Morgen beim Frühstück wollte die Bedienung sogar die Bild-Zeitung verstecken. "Ist nicht gut für Ihre Nerven", hat sie gesagt. Ich habe sie ihr dann einfach abgenommen - und was muss ich lesen? ProBahn-Chef Karl-Peter Naumann sagt, ich solle meine Kur abbrechen: "Wenn man kämpfen will, muss man richtig kämpfen und vor Ort sein." Da habe ich mich aufgeregt! Und wollte sofort in meinen Mercedes - manche trauen mir ja noch einen Ferrari zu -und losfahren auf die Autobahn. Nach München. Nach Frankfurt. Überallhin. Aber man lässt mich ja nicht.

Aber ich werde mir etwas anderes überlegen. In meinem Dorf, da haben sich die Leute damals erzählt: "Wenn der Schell in Belgien losfährt, kann man das bis Aachen hören." In ein paar Jahren werden die Leute sagen: "Selbst als der Schell am Bodensee auf Kur war, hat er mehr Rabatz gemacht als der Mehdorn in seinem ganzen Leben." Passt mal auf, ich schaffe das schon.

So, jetzt aber Schluss, ich muss los. Massage.

Manfred Schell geht - mit Bild in der linken und Pfeife in der rechten - auf den Behandlungsraum zu. Auf der Tür hängt ein großes Schild: "Dieser Massagesalon wird bestreikt."

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