Männer:Pablo

Was muss passieren, damit man beim Anblick eines Gemäldes anfängt zu weinen? Oder, etwas anders ausgedrückt, sich plötzlich eine Träne aus dem Auge wischt, weil ein Bild eine solche menschliche Wirkung entwickelt. Was passiert da?

Von Johanna Adorján

Im Prado gewesen. Geweint. Und zwar im ersten Stock vor einem Gemälde, das man bereits vom Nebenraum sehen kann und das mich so unerwartet traf, dass ich erschrak und auf der Stelle zu ihm musste, zu ihm gezogen wurde, obwohl ich eigentlich erst noch andere Werke und Räume auf meiner Route gehabt hätte. Okay, geweint ist übertrieben, ich stand nicht tränenüberströmt davor und musste mich auch anschließend nicht setzen, um mich zu erholen. Aber als ich davor stand, spürte ich, wie sich Tränen in meinen Augen formierten, nur eine Andeutung, in Blitzesschnelle vorbei, die Fassung nicht verloren, keinen Gefühlsausbruch gehabt, aber eben kurz feuchte Augen, und das heißt viel, denn ich bin normalerweise nicht besonders empfänglich für Malerei, jedenfalls nicht auf Gefühlsebene. Oft gefällt mir etwas, meist gar nicht, manchmal sehr, aber es verlässt nie die Ebene des Intellekts. Ich stelle mir vor, dass ich ein Bild gerne besäße, andere sind mir egal oder ich gehe schnell weiter oder hoffe, dass es sie im Museumsshop als Postkarte gibt.

Aber Tränen? Oder auch nur eine?

Diego Velázquez, meistens nur Velázquez genannt, malte das Porträt von Pablo de Valladolid, einem Schauspieler am Hofe des spanischen Königs Philipp IV., circa 1635, also vor nahezu 400 Jahren. Es ist recht groß, aus dem Nebenraum meint man fast, da steht echt jemand, was aber vor allem daran liegt, wie der Porträtierte steht. Einen Arm hat er am Gürtel, den anderen streckt er zur Seite, was irgendwie zufällig aussieht, als sei er gerade mitten in einer Bewegung unterbrochen worden. Und er steht so breitbeinig da, dass er ganz genau so in einem Linienbus stehen könnte, ohne sich festzuhalten, und selbst bei einer plötzlichen Vollbremsung nicht wackeln würde.

Niemand sonst steht auf irgendeinem Gemälde im Prado so da. Er trägt Schwarz, dazu den tellerförmigen weißen Kragen, der damals Mode war, und sieht den Betrachter an, jedenfalls aus bestimmten Winkeln, als hätte ihn das Bildnis mitten aus einem interessanten Gedanken oder Satz gerissen.

Vielleicht wirkt das Gemälde auch deshalb so unglaublich lebendig, weil Velázquez hier, keiner weiß warum, auf den sonst üblichen Hintergrunddekor verzichtet hat. Da ist kein Möbelstück, kein Fenster, nichts. Pablo de Valladolid steht wie vor einer Leinwand, nur sein Schatten auf dem Boden markiert einen Raum. Manet, der von diesem Werk schwer beeindruckt war, malte anschließend seinen bekannten kleinen, flötenden Soldaten ebenfalls im leeren Raum.

Pablo de Valladolid, "Pablillos" genannt, wurde 1587 drei Kilometer entfernt vom Prado in dem kleinen Dorf Vallecas geboren, heute ein Stadtteil Madrids. Als Velázquez ihn malte, war er wohl 48 Jahre alt und bereits seit mindestens drei Jahren bei Hofe tätig. Er gehörte zur Truppe von Komödianten, Hofnarren, die fürs königliche Entertainment zuständig waren. Velázquez hat viele von ihnen porträtiert, auch Kleinwüchsige und stark Schielende, worüber man sich damals offenbar amüsierte, was es umso besonderer macht, wie ernst Velázquez sie nahm. Pablo de Valladolid wohnte in einer Dienstwohnung außerhalb des Königspalasts. Seine Frau hieß Beatriz, die beiden hatten Kinder und Geldsorgen. Gestorben ist er im Dezember 1648. Im Prado lebt er noch heute.

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