Männer-Kolumne:Männer aktuell, diesmal: Sean

Männer-Kolumne: Die Erinnerung an Jean hat unsere Autorin tagelang mit sich herumgetragen.

Die Erinnerung an Jean hat unsere Autorin tagelang mit sich herumgetragen.

(Foto: Illustration Jessy Asmus)

Er, obwohl er ganz klein war und sich zuletzt beinahe auflöste, hatte keine Angst, vor nichts auf der Welt: Sean hat nie gelebt, aber unsere Kolumnistin trauert trotzdem um ihn.

Von Johanna Adorján

Ich glaube, 2017 habe ich nur im Kino geweint. Jedenfalls so weit ich mich erinnere. Dafür, dass ich im Kino weine, braucht es eigentlich nur eine Szene, in der es um eine Familienzusammenführung geht. Ein Sohn begegnet zum ersten Mal seinem längst verstorben geglaubten Vater oder so. Bisschen seltsam, weil ich ja gar nicht als Waisenkind aufgewachsen bin, aber es ist nun einmal so, dass mich das jedesmal zu Tränen rührt. Zuletzt war das, als in Mexiko lebende Zeichentrickfiguren erfuhren, dass es ihrer seit langem toten Urgroßmutter sehr gut geht, aber wie bitte soll man das irgendjemandem erklären.

Bei dem Film "120 BPM" war es anders. Ich hatte überhaupt keine Lust reinzugehen, erst nicht, weil ich dachte, es sei schon wieder eine Dokumentation über einen Techno-DJ. Dann nicht, weil in der Kurz-Synopsis folgende Worte vorkamen: Aids-Seuche, Schwulen- und Lesben-Community, Aktivisten. Dass ich dann doch reingegangen bin, habe ich, die ich kaum Filmkritiken lese, weil da meistens die Handlung verraten wird (oder erst danach, falls ich die Zeitung dann noch finde), meiner Freundin Friederike zu verdanken, die einfach nur meinte, der sei gut, und ich vertraue ihr.

Zum Weinen schön

In diesem Film habe ich dann mal nicht aus Rührung geweint, sondern weil ich so traurig war. Weil mich das Schicksal eines Menschen, der nie gelebt hat, so berührte, eine Filmfigur namens Sean, gespielt vom 31-jährigen argentinischen Schauspieler Nahuel Pérez Biscayart, der so gut französisch spricht, dass nur Franzosen hören können, dass er keiner von ihnen ist, weshalb der Regisseur, Robin Campillo, ihm im Film einen chilenischen Vater andichtete und den Umstand, dass er, Sean, erst mit 15 Jahren nach Frankreich gezogen sei.

Der Film erzählt von einer Gruppe wütender junger Menschen, die im Paris der Neunzigerjahre spektakuläre Aktionen machte, um Aids im Bewusstsein der Öffentlichkeit zu halten und Politik und Pharmaindustrie dazu zu bewegen, alles dafür zu tun, dass ein Heilmittel gefunden wird. Es gab diese Gruppe wirklich, es gibt sie immer noch, es ist der französische Ableger der 1987 in New York gegründeten Aktivisten-Organisation Act Up, und Robert Campillo war in den Neunzigerjahren in Paris Mitglied, weiß also genau, wovon er erzählt.

Im Film, dem besten, den ich 2017 gesehen habe, kristallisiert sich Sean erst nach und nach als Hauptfigur heraus, die anderen werden auch alle von großartigen Schauspielern gespielt, die genau so sprechen wie Menschen eben sprechen und sich nicht benehmen wie in einem Film, aber Nahuel Pérez Biscayarts Sean hat nochmal eine andere Tiefe oder vielleicht auch einfach das traurigste Schicksal, und man trägt die Erinnerung an ihn noch tagelang mit sich herum, als hätte es ihn wirklich gegeben, mehr noch, als hätte man ihn gekannt und wahnsinnig gerne gehabt mit seinen untertassengroßen traurigen Augen und seiner Körperhaltung, die, obwohl er ganz klein und zierlich war und sich zuletzt beinahe auflöste, immer ausstrahlte, dass er keine Angst hat, vor nichts auf der Welt.

Falls Sie den Film noch nicht gesehen haben, in ein paar Kinos läuft er noch. Ende des Monats gibt es ihn auf DVD. Es kann ja etwas Wunderschönes haben, um jemanden zu weinen, den es nie gab.

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