Lounges überall:Ich chille, also bin ich

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Früher gab es Wartezimmer, Bars, Apotheken, Fernsehstudios und Stehplätze im Stadion. Jetzt gibt es leider nur noch: die Lounge.

Gerhard Matzig

Man fragt sich, ob "Anne Will", die Sendung, nicht die Frau, wirklich so mäßig ist, wie die Leute behaupten. Vielleicht stimmt das nicht. Vielleicht besteht das Problem darin, dass Anne Will, die Frau, nicht die Sendung, den Sonntag in einer goldenen Wellness-Wohnhöhle verbringen muss, die aussieht, als ob die ARD-Tapezierer das Bernsteinzimmer für Arme nachbauen wollten. Vermutlich wollte man der zielgruppenrelevanten "Generation Lounge" auf die Sprünge helfen. Respektive aufs Sofa.

Lounges und Chill-Out-Zones: Bitte, es reicht! (Foto: Foto: Istockphoto)

Homer Simpson, unser Held in der Dichtkunst, lebt in der fiktiven US-Stadt Springfield. Einmal will er sich Schuhe kaufen. Homer betritt also das Schuhgeschäft - und der Schuhverkäufer sagt: Machen Sie schnell, in fünf Sekunden zieht hier Starbucks ein. Zu diesem Zeitpunkt besteht Springfield schon zu 85 Prozent aus Starbucks-Filialen. Übereinander, nebeneinander, ineinander. Immer nur Starbucks. Aber das ist Comic.

Die Wirklichkeit ist schlimmer. Denn in Wahrheit verdrängen nicht nur Starbucks-Filialen arglose und liebe Schuhgeschäfte aus den Städten. Sondern sie verwandeln sich außerdem auch noch in Lounges. Und weil sich auch Fernsehstudios, Stadion-Stehplätze, Zahnarzt-Wartezimmer und ganz gewöhnliche Wirtshäuser oder Bars als Lounges verkleiden, muss man sagen, dass sich die Welt gerade in eine gigantische Chillout-Zone verwandelt.

Am Frankfurter Flughafen gibt es zum Beispiel eine neue Tierstation. Dort leben Nashörner, Frettchen, Pinguine. Dazu Hund, Katze, Maus - und 3000 Tonnen Zierfische. Affen gibt es auch. Dazu gelbe Plastikschutzanzüge und blaue Plastikschutzhandschuhe. Schleusen und Labors sind zu sehen. Man denkt ans Kino, an den Virus-Schocker "Outbreak", in dem ein verseuchtes Äffchen aus dem Dschungel die Welt bedroht. Folglich sollte diese Tierstation einen ernsthaften Namen tragen, zum Beispiel "Hochsicherheitstrakt". Und sie sollte mit einem Hinweisschild ausgestattet sein: "Vorsicht! Viren! Bakterien! Gefährliche Tiere!"

Es sollte jedenfalls klar werden, dass die 25 Veterinäre und 60 Pfleger, die hier arbeiten, nicht zum Vergnügen da sind. Aber im Stil der Zeit heißt die neue Tierstation: "Animal Lounge". Die Lounge ist mittlerweile sowas wie die Leah oder der Leon: ein unfassbar beliebter Name, der schon seiner Seltenheit wegen so massenweise Anklang findet, dass die Exotik irgendwann untergeht. Animal Lounge: Man kann sich gut vorstellen, wie dort Lämmer und Löwen friedlich beieinander liegen, ein paar Nüsse in Reichweite, Beine hoch, dazu der eine oder andere Gimlet. Wie sie abhängen, wie sie entspannt und gut gelaunt loungen.

Das ist Englisch und geht in Richtung Faulsein, Zeitvertrödeln, Herumlungern. Neuerdings wird der Begriff nur noch positiv verwendet. Das Loungen hat sich zu einer Glücksindustrie entwickelt. Es ist die Utopie unserer Gesellschaft. Wer jetzt keine Lounge hat, baut sich keine mehr. Und man kann dann sehr traurig darüber werden.

Denn es gibt offenbar keine Gehäuse mehr, die einfach nur funktional sind im Sinne von Essen, Trinken, Warten, Plaudern, Zeitunglesen, Tieraufbewahren, Fußballgucken. Nein, eine Lounge muss es sein. Ein Gefühl. Ein Sehnsuchtsort. Es gibt Business- und VIP- und Animal- Lounges. Smart Lounges und First-Class-Lounges. Dazu "Deutschlands erste Lounge für das Aufhellen von Zähnen" (in Frankfurt), die "Manager-Lounge" (im Internet) und jede Menge "Sky-Lounges" (überall) mit Nüssen umsonst. Und es gibt das tolle Versprechen im Wohn-Chat: "Meine Wohnung wird loungig - ich mache Chill-Abende."

Ich launsche, du launscht, er, sie, es launscht, wir launschen. Sprechen muss man das so: Lauuuunschen. So, als ob das "U" mit Flokati ausgekleidet wäre. Oder so: Loooooungen. So, als ob man sich auf das "O" draufsetzen könnte wie auf ein leicht grunzendes Plastikkissen. Die Lounge ist über die Welt gekommen und macht sich breit wie kein anderes Utopia. Höchstens könnte es noch irgendwo im afghanischen Bergland ein paar Lounge-freie Zonen geben.

Das, was man früher Caféteria genannt hätte, heißt jetzt an der Ludwig-Maximilians-Universität zu München "unilounge". Und in Wien wurde die Apotheke Saint Charles in der Gumpendorferstraße 30 sozusagen relounged. Vormals hieß sie "Apotheke zur heiligen Dreifaltigkeit". Jetzt verkaufen sie dort nicht nur Aspirin und Stützstrümpfe zu Apothekerpreisen - sondern es ist sogar eine Apotheke zu Loungepreisen daraus geworden: eine "ganzheitliche Oase", in der man von einem Team aus Köchen, Beauty-Experten und Pharmazeuten zum "Relaxen, Shoppen, Essen und Glücklichsein", ja, nachgerade zum Gesundsein angeleitet wird.

So etwas hat Berlin nicht zu bieten. Aber immerhin hat dort die Fiat-Tochter Lancia die erste "Lancia-Café-Lounge" eröffnet. Es soll ein Pilotprojekt für andere europäische Metropolen sein. Autos gibt es dort auch. Das muss so sein, denn mit "Q110", der "Bank der Zukunft" an der Friedrichstraße 181, hat die Deutsche Bank eine Berlin-Filiale eröffnet, die auch nicht ganz ohne Finanzprodukte auskommt. Obwohl sie im Grunde natürlich "so etwas wie eine Lounge" sein soll. Samt "Trendshop".

Unter all den neuen Worten, die sich wie eine Quallenpest ausbreiten, verbirgt sich ein Haupt- und Großwort, welches alle anderen Plagen repräsentiert. Für all die Design-Hotels, Wellness-Oasen, Wohlfühl-Religionen und Trendshops, fürs Cocooning wie fürs Homing gibt es einen Namen: die gottverdammte LOUNGE. Dazu gibt es Lounge-Musik und Lounge-Mode, Lounge-Literatur, Lounge-Architektur, Lounge-Design, und also muss man jetzt mal sagen: Die Esoterik hat gesiegt.

Die Ankündigung, dass die berüchtigte "Buddha-Bar" nun expandiert und auch im Hotelgeschehen mitmischen will, um dann nach und nach sechs "Buddha-Bar Hotels & Resorts" im jeweils loungeartigen Ambiente zu eröffnen, von Prag bis Panama, kann man deshalb nur noch als Vollendung der Apokalypse begreifen. Kein Wunder, dass sich Berlin schon sehr darauf freut.

Denn somit wird sich auch die berühmte "Buddha-Bar-Musik" ausbreiten, die man als feinste elektronische Chillout-Musik, gekühlt mit Ambient & Downtempo, gemixt mit House & Latin ruhig fürchten darf. Lounge, als Musikrichtung, hört sich exakt so an. In solcher Musik fühlt man sich, als ob man sein Leben im Inneren einer Lava-Lampe verbringen müsste. Lounge-Musik ist so, als ob die Restbelegschaft von Amon Düül auf dem klanglichen Fundament von "Popcorn" den Hintergrund-Sound für eine Spa-Abteilung komponiert hätte. Versehen mit dem Auftrag, das Wellness-Lexikon von Abhyanga bis Ohrkerzenbad zu vertonen - dabei aber wie Pink Floyd auf Hindi zu klingen. Angesprochen wird damit alles, was sich zur digitalen Bohème rechnen darf.

Die war im 17. Jahrhundert noch nicht bekannt, als sich die Vorläufer der Lounges - Tavernen und Schenken vor allem - erstmals in der Kulturgeschichte des öffentlichen Trinkens und Essens bemerkbar machten. Hotels, Bars, Restaurants und Clubs sind die legitimen Erben der frühesten Möglichkeiten, den Status des Unterwegsseins räumlich abzubilden. Insofern ist der derzeit erlebbare Lounge-Schub verständlich. Er bezeichnet einen neuerlichen Höhepunkt der Mobilität. Auch im 17. und 18. Jahrhundert entstanden aufgrund der schon damals spürbar werdenden Bewegtheit Gaststätten als transformatorische Zwischenräume.

Im Wiener Kaffeehaus wurde sehr viel später daraus die griffige Formel "Nicht zu Hause und doch nicht an der frischen Luft". All die Laptops und Mobiltelefone, die heute in den Lounges als Indizien erhöhter Flexibilität wirken, sind ein ferner, allerdings immer bizarrer werdender Nachhall auf diese Entwicklung. Denn die Lounge ist der Versuch, die Globalisierung wie ein Wohnzimmer aussehen zu lassen. Wir sind zwar immer mobiler und deshalb immer öfter in den Wartehäuschen der Mobilität anzutreffen. Die aber sollen aussehen wie ein Zuhause. Die weltweit uniformen Lounges behaupten also eine - natürlich fiktive - Behütung gegen alles Unterwegssein: Ich chille, also bin ich.

Wobei die Errungenschaften der Cocktailstunde, der Hotellobby und vor allem der amerikanischen Bar im Grunde nicht genug zu rühmen sind. Raymond Chandler konnte nur solchen, oft magischen Orten Figuren wie Marlowe und Szenen wie diese abgewinnen: "Es war so still bei Victor, dass man fast die Temperatur fallen hörte, wenn man zur Tür hereinkam. Auf einem Barhocker saß ganz allein eine Frau in einem schwarzen Modellkleid, mit einem blaßgrünlichen Drink vor sich, und rauchte in einer langen Jadespitze eine Zigarette. Sie hatte jenen feingesponnenen, intensiven Blick, der manchmal neurotisch ist, manchmal sex-hungrig und manchmal einfach das Ergebnis drastischer Diät." Das war lange vor jenen überall gleich aussehenden Design-Bars, die eine erste böse Ahnung der heutigen Lounge-Depression darstellten.

In den 1980er Jahren entging man ihnen vor allem dort nicht, wo sich der Weltgeist wie Ibiza anfühlte. In der Bucht "Cala des Moro" entstand 1980 das "Café del Mar", dessen Behausung wie das herausgesägte Stück einer ungeliebten und ausgehärteten Hochzeitstorte aussieht. Das Publikum dort, die blaue Stunde und die Musik ergaben schließlich jenen Grusel, der zu solchen Sätzen gerinnen musste: "Lounge: Wellness goes Clubbing."

Noch heute bestellt man, während man es sich auf dem Stuhl "Costes" von Philippe Starck (1982) oder in der Ur-Buddha-Bar (1996) bequem macht, während man die unvermeidlichen Tulpenstühle von Eero Saarinen in der Orbit Bar in Sydney (1999) umschifft, noch heute bestellt man immer Ibiza mit, wenn man in eine Lounge einkehrt. Das ist das Schlimmste am Loungen: die Ibizahaftigkeit. Das Zweitschlimmste ist die Haltlosigkeit. Den "Lounge Chair", der so elend schlecht kopiert wird in der Retro-Welt, hatte sich Charles Eames für einen Freund ausgedacht: für Billy Wilder, den kugeligen Mittagsschläfer. Jeder etwas größere Mensch sieht schon im Original-Eames aus wie eine Büroklammer in unterwürfiger Stellung.

Versunken in den Knautsch-Möbeln, die als degenerierte Nachkommen herumstehen, sehen die Abhänger und Chillenden heute nun endgültig wie aus? Wie Menschen in sehr großer Not.

© SZ am Wochenende 3.5.2008 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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