London:Fashion Quiek

Die Londoner Modewoche und der Kollaps der Banken - wie sich die Hauptstadt der Welt ganz schnell für hässliche Zeiten rüstet.

Rebecca Casati

In diesem Jahr gab es in England den erbärmlichsten Sommer seit 1929. Allein im August waren die Regenfälle 40 Prozent höher als im Durchschnitt. Dann passierten in London letzte Woche drei Dinge gleichzeitig: Das Finanzsystem wankte. Die Fashion Week begann (52 Schauen in sechs Tagen). Und noch sonderbarer als diese Kombination aus Credit Crunch und Luxus: Das Wetter wurde plötzlich so gut wie das ganze Jahr über nicht.

Agy
(Foto: Foto: OH)

Die Sonne leuchtete alles gleich schön aus, zum Beispiel auch die fünftausend Extra-Besucher, die zur Modemesse in die Stadt gespült worden waren. Sie schien auch in die pergamentenen Gesichter der Banker, die in Tenniskleidung durch Kensington schlichen. Man kann sich ja nicht plötzlich in Lumpen hüllen und mit dem Sport aufhören, nur weil man arbeitslos ist.

In einer der lautesten Städte der Welt erträgt in diesen Tagen niemand mehr Lärm als notwendig. Menschen über 15 haben ihre Handys auf "Vibrieren" eingestellt. Deshalb hört man sehr vernehmlich einen Laut, der klingt wie das, was ein exotischer Vogel vor dem Hotelfenster macht, während man gerade schlafen will: "Agy!Agy!Agy!Agy!"

Das ist die Abkürzung von Agyness, und auch das ist nur ein Künstlername. Mittlerweile haben auch Models Künstlernamen, und so also auch das Topmodel du Jour - Laura Hollins alias Agyness aka Agy. Wer in London in der rollenden Untergrundbüchse sitzt, blickt auf lauter Tabloidcover, von der Daily Mail über die Sun bis zur Gratiszeitung Londonpaper, und überall ist Agy.

Agy allerorten

Agy auf dem Fahrrad, Agy betrunken, Agy in einem Idioten-Kleid, Agy beim Polonaise-Tanzen, Agy mit blöden Neonsocken, Agy mit einem blöden Hut auf dem gefärbten Kurzhaar. Keine Jahrhundertschönheit, ein Moment-Mädchen, das einem Popvideo aus dem Jahr 1984 entsprungen sein könnte. Dem London, wie es war, bevor Brutalkapitalisten aus Saudi Arabien und Russland (wer hätte das gedacht, 1984) die Stadt konfiszierten.

Die Engländer brauchen in diesen Tagen etwas, das sie ablenkt und aufheitert. Gwyneth Paltrow verfasst, wenn sie nicht Yoga macht, Webpages über den Sinn des Lebens. Madonna ächzt etwas peinlich auf ihrer Welttournee herum. Bei der Heirat von Prinz William und Kate Mittelmäßig geht gar nichts voran. Sienna Miller hat weinend das Land verlassen, nachdem ihre Affäre mit dem verheirateten amerikanischen Milliardenerben Balthazar Getty bekannt wurde.

In der Presse hat man sie als "Sluttyenna" beschimpft und sicherheitshalber hat man ihr Haus in Notting Hill noch mal mit "Slut" besprüht. Gestern Darling, morgen Hundefutter. Daran zumindest hat sich in England nichts geändert.

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Agy also ist die neue Botschafterin der britischen Jugendkultur, das neue Schönheitsideal einer Stadt, die die kaputte Kate Moss gerade zum Teufel schickt, und die sich im Zentrum nicht nur Europas wähnt. Londonerinnen wissen, was sie der Welt schuldig sind: Ambivalenz, erratisches Gebaren.

Kantige Schönheiten

"Edge", nennt man das hier. Sie tragen ein Chiffonkleid für Hunderte von Pfund zu blickdichten Strumpfhosen und löcherigen Stoffturnschuhen. Sie haben trotz Smog perfekte Haut und wunderschöne erdbeerblonde Mähnen, die sie - wie alles Wunderschöne - auf jeden Fall ins Groteske ziehen, mit einem Opa-Hütchen oder einer sonderbaren Frisur oder einer weißblonden Brachialtönung.

Londonerinnen sind nicht so perfekt wie Amerikanerinnen. Nicht so kompliziert wie Pariserinnen. Nicht so mürrisch wie Russinnen. Sie wirken mühelos. Sie brauchen im Winter keine Strümpfe und im Sommer keine hohen Schuhe, um sexy auszusehen. An ihnen wirkt Altes wie neu und Neues wie gebraucht.

London ist - ja, immer noch - die exklusivste Stadt der Welt. Nur in New York wohnen mehr Milliardäre; dort sind es 34. Hier sind es 23. Woran erkennt man eine so reiche Stadt? Zum Beispiel daran, dass es sehr viele nur leicht abweichende Variationen von ein und der selben Sache gibt.

Einheitsbrei

Hunderte von mit Kühldampf befeuchtete Plastikcontainer mit Salaten in der Foodhall von Marks and Spencer. Tausende Stuckhäuser mit messingbeschlagenen Türen und lackierten Eisenzäunen. Zigtausende von Touristen aus Korea oder Italien. Tausende von Mädchen, die auf den ersten Blick cool aussehen und auf den dritten alle gleich.

Die letzten vier Jahre, von 2003 bis 2007, lief es so gut wie noch nie für viele Londoner, nämlich für die Reichen und Superreichen. Für sie gilt, was für alle anderen absurd scheint: Es lohnt sich, hier zu leben. London ist diskret und politisch stabil. Politiker sind nicht nennenswert korrupt. Eigentum wird beschützt. Die Schulen sind ausgezeichnet.

Die Stadt liegt in der Mitte zwischen Asien und Amerika. Außerdem ist London für Menschen mit viel Geld ein Steuerparadies. Der Staat erlaubt, dass sogenannte Non-Residents, Leute also, die eine bestimmte Zeit des Jahres in Londen und den Rest im Ausland verbringen, nur für das Einkommen Steuern zahlen müssen, das sie in England machen.

Was einem russischen Gas-Unternehmer oder einem indischen Textil-Tycoon recht sein kann. Es gibt 100 000 solcher Nicht-Bewohner Londons, nicht alle sind Milliardäre, aber alle sind Multimillionäre. Viele kamen in den letzten zehn Jahren und teilten das historische London unter sich auf. In Belgravia und Kensington sind die Russen; in Chelsea und Notting Hill sind die Amerikaner.

Die Banker haben das Sagen

Tonangebend wurden, neben ein paar Oligarchen und ein paar Scheichs, mehr und mehr die Banker. Sie verdienten in der kürzesten Zeit das meiste Geld, viele wurden noch vor ihrem 30. Geburtstag Multimillionäre. Ihre Frauen waren schlank und blond, ihre Häuser groß und exklusiv.

Einer der legendärsten unter ihnen war Driss Ben-Brahim von Goldman Sachs, genannt: "The Toast of London". Geboren 1965, machte er Schlagzeilen mit den größten Jahresausschüttungen, die in dieser Branche gezahlt wurden: 2003 überwies man ihm 30 Millionen Pfund, 2006 sogar 50 Millionen Pfund.

Der durchschnittliche Jahresbonus eines Goldman-Sachs-Bankers betrug in diesen Jahren 320000 Pfund. Damit kauften die Banker ihre Häuser in Notting Hill oder Kensington. Und da Geld in diesen Jahren also vom Himmel regnete, kauften sie immer mehr Häuser, boten immer höhere Preise und blähten den Markt immer weiter auf.

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Die Frauen dieser Männer wurden das, was in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts die Fußballerfrauen waren: mythologische Wesen, deren Lebenssinn in der Verfeinerung ihrer Hautporen sowie ihrer Hausflure bestand.

Sie waren gesellschaftliche Knotenpunkte, um die herum alles scharwenzelte, fotografierte und staubsaugte. Innen mitunter hohle Luxusgeschöpfe, die morgens zum Yoga gingen, vormittags zur Kosmetik und mittags zur Elternsprechstunde in einer der exklusive Privatschulen wie Wetherby, Pembridge Hall oder Sussex House. Frauen, die Charity-Dinner in der Serpentine Gallery gaben, während ihre Männer in Firmenjets mit integrierten Bettenlandschaften nach Taiwan flogen, um noch mehr Millionen zu machen.

Leben in Saus und Braus

Die Times druckte letzte Woche eine Aufstellung der laufenden Kosten einer solchen Bankiersfrau: 80 Pfund für die wöchentlichen Maniküren und Pediküren. 35000 Pfund pro Jahr für die Nanny. Einmal im Monat Highlights und Haarschnitt für 200 Pfund. Gärtner, Chauffeur, Masseur, Hundeausführer für jeweils 50 Pfund die Stunde. Dazu die galaktisch teuren Privatschulen. Sowie die in London schon immer interessanten Restaurantrechnungen: zweistellige Tausenderbeträge.

Unter dem Gesichtspunkt der Emanzipation waren diese Frauen eine Katastrophe. Sie waren außerdem mitverantwortlich für eine Renaissance des Klassensystems, denn sie beschäftigten eine Menge Personal, am liebsten von den Philippinen und vorzugsweise in Uniformen. Aber: Sie schufen auch Jobs.

So war es. Bis zu dieser Woche nun, in der sich ein Schockschleier über London gesenkt hat. In Belgravia staubt eine einsame tschechische Maid die Streben des schwarzlackierten Eisenzauns ihrer Herrschaften ab. Eine irre gestresste Elle McPherson schiebt ihren reizenden kleinen Sohn auf seinem Kinderfahrrad durch Notting Hill - oder auch "Notting Hell", wie es die Menschen nennen, die hier zufälligerweise aufgewachsen sind und erleben mussten, wie ihr alternatives Viertel von australischen Supermodels und Superbankern besetzt wurde.

Finanzkrise auch im Kosmetiksalon

In Mayfair warten die Kosmetikerinnen bei Elizabeth Arden nervös auf die Bankiersfrauen; sie kommen nicht. "Es ist deutlich ruhiger als sonst, gerade was Bestellungen angeht", sagt ein Verkäufer aus dem Zegna-Geschäft um die Ecke. In den Boutiquen in der Brompton Road in Kensington tanzen, unbehelligt von Kundschaft, Staubpartikelchen in der Sonne.

Die feine Walton Street macht ein Nickerchen, Stille herrscht zudem in der Interieur-Boutique von Nina Campbell und auch schräg gegenüber bei Marie Chantal, dem Luxuskleiderladen für kleine Bankierssprösslinge.

In der Savile Row erzählt ein Schneider mit maliziösem Lächeln, er mache seit dieser Woche wieder das, was er bei der letzten Rezession Anfang der Neunziger auch getan habe: Er ruft bei seinen Kunden an, fragt, wie es geht, ob man nicht die neuen Stoffe mal probieren wolle . . . ? Allein bei Harrods brummt's, die Russinnen, die hier in ihren Jimmy-Choo-Stiefeln mit Nietensternchen Datteln und Austernsauce kaufen, sie sind ungerührt wie immer.

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Die Banker galten hier in London lange als kalte, gleichwohl bewunderte Zauberer, die sich allein an ihre eigenen Regeln hielten. Nun sind sie die Autoren ihrer eigenen Untergangs-Saga. Die Rechnungen, die sie zahlen, für das Haus in Südfrankreich, die Skiferien in Vermont, das bezahlen sie normalerweise mit dem Jahresbonus.

Etliche dieser Boni, die nun nicht mehr kommen, sind schon ausgegeben. Viele verlieren gerade ihre Existenz - aber viele eben auch nicht. Das Schlachtfest geht vielen Normalbürgern nicht weit genug, denn in den soeben noch sehr halbwegs bezahlbaren Vororten kollabieren nun die Preise ihrer mühsam ersparten Häuschen.

Das ist das Zynische an der Sache: Während die Villen in Mayfair kaum ihren Wert verlieren werden, geht es bei den normalen Leuten in Tooting oder Streatham den Bach runter. Im Blog des Evening Standard schreibt einer: "Keine Nanny mehr? Ach ihr Ärmsten!"

Vom Nah-bei-Gott-Gefühl in die Bedeutungslosigkeit

Diskutiert werden nun sogar auf der Fashion Week - und wer mag, kann das natürlich sehr, sehr komisch finden - nicht die vielen Rüschen, kurzen Röcke, betonten Schultern und übrigens gleichbleibend hässlichen Klumpschuhe, als vielmehr die tolle Nachricht, dass die sich in der Abwicklung befindliche Lehman-Bank 50 Psychologen sucht für ihre Banker, die innerhalb von 24 Stunden vom Nah-bei-Gott-Gefühl in die Bedeutungslosigkeit abgerutscht sind.

Wenn sie, die Spezialisten, nicht rechtzeitig erkannt haben, wohin ihr Schiff steuert, warum sollte es dann wichtig sein, was ein Designer in den nächsten Sommer hinein geheimnist?

Die Einkäufer, heißt es am Ende dieser Woche in London, hätten verstärkt auf Accessoires, Schuhe und Taschen gesetzt, mit denen man auch ältere Klamotten aufpolieren kann! "Die Modehäuser wissen Bescheid über die Sorgen, die die großen Banken mit ihrer Gier verursacht haben", sagt das 60er-JahreKind der Londoner Designer: der große Paul Smith.

Accessoire-Gedöns

War die Idee nicht gerade noch gewesen, wegzukommen von all dem Accessoire- und Taschengedöns? Hin zu schonend gebleichten Baumwollbeuteln? Zum besseren Weltbürger? Wollte man nicht jetzt gerade reich und gut werden? Und nun? Wer wird die swimmingpoolfarbenen Bodenroben von Issa, die Nietenkorsetts von Alice Temperley oder die Wildleder-Hotpants von Mario Schwab tragen? Zu welchem Anlass? Was gäbe zu feiern? Hat wer eine Idee?

Agy ist am Ende dieser Woche in einem 7 Pfund-Fummel vom Portobello Market auf einer Party aufgetaucht. Mit ein paar anderen Mädchen hat sie zum wirklich entsetzlichen 80er-Jahre-Remake "Locomotion" von Kylie Minogue getanzt. Auf der Oxford Street, bei Urban Outfitters, liegt in Stapeln etwas, das man für immer hatte verdrängen wollen: bauchfreie T-Shirts. Mit Aufdruck. Gegenüber bei Gap gibt es Motorradstiefel, wie man sie in den 90ern trug.

London, die Stadt der eiskalten Wahrheit, sie knallt uns in größter Beeilung die Mode um die Ohren, die sich diese Zeit verdient hat: Sie sieht wirklich sehr scheußlich aus, diese Mode.

Augen zu und an was Schönes denken. Vielleicht geht ja alles schnell vorbei.

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