Liebes Leben:Kissenfalten im Gesicht

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(Foto: N/A)

Endlich mal alle viere von sich strecken und ausschlafen! Wäre das schön. Aber ziemlich unökonomisch, klagt unsere Kolumnistin.

Von Franziska Storz

"Wann sind wir da?" ist wahrscheinlich die am häufigsten gestellte Kinderfrage. Nur, wie soll man sie um Himmels willen beantworten? Weder ein euphemistisches "bald" noch "in einer halben Stunde" stellt ein Kind zufrieden. Besonders wenn die ganze Familie gerade mit dem Auto im Stau steht und einer aufs Klo muss. Als meine Tochter mich irgendwann fragte wie viele Male sie noch "schlafen müsse" bis zu ihrem Geburtstag, lautete meine Antwort nach langem Rechnen: 182-mal. Aber immerhin. Nächte sind eine Zeiteinheit mit der Kinder etwas anfangen können.

Wir haben nach alternativen Zeitangaben, abseits von Tagen, Minuten und Sekunden gesucht, um dem Kind zu erklären, wann jemand vom Einkaufen nach Hause zurückkommt. "Das dauert nur so lange, wie ein Ei kocht" wurde zur festen Größe im Haushalt. Oder: "Solange, wie ein Kuchen backt". Den größten Krach hatten wir immer auf dem Weg zum Kindergarten. Das Anziehen dauerte eine halbe Ewigkeit. Mit trödelndem Kind an der Hand die Treppe hinuntersteigen, kam mir vor wie eine Reise auf den Mars. Ich gemeine Kuh habe das arme Kind Tag für Tag erbarmungslos in den Erwachsenenrhythmus gepresst, obwohl sie lieber im Schlafanzug Wollmäuse auf dem Fußboden untersucht hätte.

Experten sind sich längst einig, dass der Kindergarten zu früh anfängt, und die Schule sowieso. Vor hundert Jahren schliefen die Menschen noch etwa zehn Stunden pro Tag. Heute durchschnittlich sechs. Dem Kapitalismus schmeckt unser Schlaf. Er verschlingt ihn und lebt davon, dass wir immer denken, ein anderer könnte schneller und effizienter sein. Schlaf stört unsere Verfügbarkeit als Arbeitsbiene. In China gibt es inzwischen Schlafkonzerte. Die Leute bezahlen Geld dafür, dass sie sich zu klassischer Musik in einem Eck einrollen und einschlafen dürfen.

Wir leben in einer einzigen Zeitkrise, sagen Wissenschaftler wie Helga Schmid, die sich mit Chronobiologie und natürlichen Lebensrhythmen beschäftigt. Unser biologischer Rhythmus sei völlig versaut von künstlichem Licht, technologischer Beschleunigung und "selbstbestimmten" Arbeitszeiten, die ein Euphemismus sind für die totale zeitliche Fragmentierung unseres Alltags. Sie empfiehlt, den Tag öfter mal nach natürlichen Bedürfnissen einzuteilen: Hunger und Schlaf.

Ich habe mich schon immer gefragt, warum alle Menschen ihre Studienzeit so glorifizieren, trotz langweiliger Referate, wenig Geld und schlechtem Mensaessen. Wahrscheinlich ist es in die einzige Zeit im Leben, in der man sich gestattet, nach einem halbwegs natürlichen Rhythmus zu leben. Schlafen, wenn man müde ist; essen, wenn man Hunger hat. Verrückt. Das kommt einem im Nachhinein paradiesisch vor. Einmal ausschlafen, einmal nicht verfügbar sein, einmal Falten vom Kissen im Gesicht haben, ist ja längst zum revolutionären Akt geworden.

© SZ vom 14.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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