Lichtverschmutzung:Raum für das Dunkle und Unter-Leuchtete

Nacht über Berlin

In Großstädten wie Berlin wird die Nacht oft zum Tag.

(Foto: picture alliance / Paul Zinken/d)

"Mehr Licht!", soll Goethe auf dem Sterbebett gerufen haben. Heute müsste der Schlachtruf der Aufklärer lauten: weniger Licht! Weil das Leben ohne Nacht genauso schrecklich wäre wie das ohne Tag.

Von Matthias Drobinski

Wenn man wandern geht in den Bergen und in zu viele Holz- und Irrwege biegt, dann ist auf einmal die Sonne untergegangen und das letzte Waldstück liegt noch vor einem. Es wird dunkel. So dunkel, dass man fluchend über Wurzeln stolpert und gar nicht merkt, was da gerade geschieht: Man ist in eine Art Naturreservat eingetreten, ins Rückzugsgebiet der Dunkelheit, die sich wie ein verstörtes Tier in die Wälder geflüchtet hat, in vergessene Höhlen und Keller. Ein bisschen gruselt es einen so ganz ohne Licht, dann wird der Wald weit, das Land liegt da mit seinen abertausend hellen Punkten und der orangefarbenen Lichtglocke am Horizont, deren Schein bis zu den Wolken reicht - da liegt die Stadt. Willkommen zurück in der Welt des ewigen Leuchtens.

Nie war die Welt zu hell wie heute. Seit 2011 liefert der US-Satellit Suomi Daten, wie die Erdoberfläche sich verändert - und zu den auffälligsten Veränderungen gehört der Verlust der Nacht. Zwischen 2012 und 2016 ist die Erde pro Jahr um 2,2 Prozent heller geworden, wie Wissenschaftler vor ein paar Wochen belegt haben. Nicht ganz so schnell in den ohnehin schon erleuchteten Industrieregionen, umso schneller dafür in den Entwicklungs- und Schwellenländern. Satellitenbilder zeigen dunkle Ozeane und helle Küstenstreifen, Lichtklumpen, wo Großstädte wie London sind oder Ballungszentren wie das Ruhrgebiet, Flughäfen. Und schwarze Löcher in Afrika und Lateinamerika, den Wüsten und Steppen Asiens. Dunkle Flecken, so wie vor 300 Jahren die Kartografen weiße Flecken auf ihren Landkarten ließen.

Diese Dunkelheit war bis ins 18. Jahrhundert die Dunkelheit fast aller Menschen. Sie hatten zwar das Feuer gezähmt und gelernt, mit Pechfackeln und Kienspänen ihre Höhlen und Hütten zu beleuchten. Seit 2000 vor Christus gab es den Docht, mit dem man Flamme und Brennstoff trennen konnte. Doch Licht blieb teuer und rar. Im alten Babylon kosteten zehn Liter Lampenöl den Monatslohn eines Handwerkers, und noch Johann Sebastian Bach ruinierte sich im 18. Jahrhundert die Augen, weil er bei Mondschein und Kerzenlicht komponierte. Die Nacht zum Tag machen - das konnten sich nur Könige, Fürsten und Herzöge leisten, eine Schlossbeleuchtung mit tausenden Kerzen auf Kronleuchtern, deren Kristalle und die wertvollen Spiegel an der Wand ein Lichtermeer schufen.

Das kleine Licht im Meer der Dunkelheit, das ist ein uraltes religiöses Motiv. Die antiken Religionen waren voller Sonnengötter und Herrscher der Finsternis; in der hebräischen Bibel begann Gott die Weltenschöpfung, indem er das Licht von der Finsternis schied und Ordnung brachte ins Tohuwabohu, ins heillose Durcheinander. "Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht", verhieß der Prophet Jesaja. Den Hirten auf dem Feld erschienen die Engel in gleißendem Licht und kündeten von Jesu Geburt; die Weisen aus dem Morgenland folgten dem Stern. Und für den Kirchenvater Augustinus war klar, dass es im Himmel niemals dunkel wird - die Gotteserkenntnis bedeutete für ihn schattenlose Helligkeit.

Erkenntnis und Helligkeit waren im übertragenen wie konkreten Sinn verbunden. "Enlightenment" steht im Englischen für die Aufklärung, die Licht ins Dunkel des Unwissens und Aberglaubens brachte. Dass die Menschen mehr lasen, hatte mit Descartes und Locke, Kant und Fichte zu tun, aber auch mit einem Klempner aus Montpellier. Der entwickelte Ende des 18. Jahrhunderts nach Vorgaben des Physikers Aimé Argand einen hohlen Docht, das machte die Flamme seiner Öllampen so hell, dass man abends lesen konnte, ohne trübe Augen befürchten zu müssen. Thomas Alva Edisons Glühbirne machte die allgemeine Erleuchtung kostengünstig und sicher. Sie demokratisierte das Leben nach dem Sonnenuntergang; jeder konnte nun lesen, ins Kino oder Theater gehen, durch die Stadt flanieren.

Totalbeleuchtung ist nicht gut für Gesundheit und Seele

Licht und Moderne sind in den Industriestaaten eins geworden. So sehr, dass Nacht und Dunkel aus den Städten und Dörfern verschwinden. Kein Eigenheim ohne 500-Watt-Strahler, der Einbrecher abhalten soll. Kein Fußballverein ohne Flutlichtanlage, keine Fußgängerzone ohne Leuchtreklamenwald; Kirchtürme, Rathäuser, Berge werden angestrahlt; die Skybeamer der Discos fingern sinnfrei über den Himmel. Im Dezember hängen Lichterketten um die Bäume und LED-Teppiche von den Balkonen; in Ostdeutschland mehr als im Westen, als gebe es einen Zusammenhang zwischen Säkularismus und steigendem Lichterbedarf. Man muss sich nachts nicht mehr um ein wenig Helligkeit mühen. Man muss schauen, dass es dunkel wird, mit Rollos und blickdichten Gardinen, um schlafen zu können. Die Heiligen drei Könige würden heute vor lauter Licht ihren Stern nicht mehr finden; sie bräuchten ein Navigationsgerät.

Die Totalbeleuchtung ist nicht gut für Gesundheit und Seele. Sie bringt den Lebensrhythmus von Menschen, Tieren, sogar Pflanzen durcheinander; Forscher sehen in ihr eine neue Gefahr fürs Ökosystem. Vor allem die blauen Anteile des Lichts stören den Gang der menschlichen inneren Uhr. Welche Auswirkungen das genau hat, ist noch nicht so recht erforscht; es ist aber durchaus möglich, dass die Erleuchtung der Nacht auch ernste Erkrankungen begünstigen kann.

Licht aus! Kerz an.

Viele Menschen spüren das. Als vor zehn Jahren die traditionellen Glühbirnen durch Energiesparlampen ersetzt werden sollten, gab es großen Protest - die damaligen Lampen machten ein bläuliches, kälteres Licht, das manchen Nutzer so frösteln ließ, dass er die Heizung aufdrehte und der Energiespareffekt hinüber war. Erst als die Hersteller das Lichtspektrum ihrer Leuchten wärmer machten, ließ der Ärger nach. Die Leute spüren, dass totale Erleuchtung so schlecht ist wie totale Transparenz. Es braucht Orte der Dunkelheit, es braucht Geheimnisse und Verborgenes. Eine Welt ohne Dunkel käme der Paradiesvorstellung des Kirchenvaters Augustinus nahe, der ja nur seine Kerzen hatte. Jetzt merkt man: Es wäre ein furchtbar armseliger Ort.

Es braucht die Spannung zwischen Hell und Dunkel, das Spiel mit Schatten und Schattierungen. Auch deshalb ist das Kerzenlicht so populär, als einfachste Form der Transzendenz und Ausdruck der Ergriffenheit. Man muss nicht fromm sein, um in einer Kirche eine Kerze anzuzünden. Und wenn ein Terroranschlag oder Unglück die Menschen verstummen lassen, stellen sie ein flackerndes Licht auf. Deshalb funktioniert auch das Weihnachtsfest weit über die Kirchen hinaus; vom Adventskranz bis zum Schummerlicht des Weihnachtsbaums.

"Menschenrecht auf Dunkel wie auf Stille"

"Mehr Licht!", soll Johann Wolfgang Goethe programmatisch auf dem Sterbebett ausgerufen haben, was viel zu schön ist, um falsch zu sein. Heute müsste der Schlachtruf der Aufklärer lauten: weniger Licht! Lasst Raum dem Dunklen und Unter-Leuchteten, weil das Leben ohne Nacht genauso schrecklich wäre wie das ohne Tag. Oder, wie es der Philosoph Ludger Lütkehaus schon vor 15 Jahren geschrieben hat: "Es gibt ein Menschenrecht auf Dunkel wie auf Stille."

Mittlerweile tut sich was. Es gibt Initiativen gegen Lichtverschmutzung und Richtlinien gegen übermäßige Beleuchtung. Weniger Licht heißt nicht weniger Lebensstandard oder Sicherheit: Deutschland strahlt weniger als die USA, weil die Deutschen zurückhaltender beleuchten. Städte erhellen die Straßen inzwischen mit warmweißem Licht und schalten nachts Fassadenbeleuchtungen ab. Jetzt müssten nur noch die Lichterkettenfetischisten dazulernen: Licht aus! Kerze an.

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