Legendäres Café:Ganz das Alte

Lesezeit: 7 min

Touristenorte wie Florenz oder Venedig haben sich dem eigenen Klischeebild angeglichen. Im Caffè Meletti in Ascoli Piceno lebt dagegen das alte Italien weiter.

Von Thomas Steinfeld

An einer eisernen Säule in der Mitte des Caffè Meletti, eines altertümlichen Kaffeehauses in Ascoli Piceno, hängt ein Vogelbauer. Eine ausgestopfte Drossel sitzt darin und reckt den Schnabel nach oben. Noch vor ein paar Jahren konnte man sie aufziehen. Dann ratterte die Mechanik, und der Vogel pfiff aus seinem Blasebalg. Doch ist der Schlüssel nun schon seit Längerem verloren, sodass der Vogel stumm und verstaubt in seinem Käfig verharrt. Niemand wird ihn deswegen abhängen. Denn er befindet sich an dieser Stelle, knapp über Kopfhöhe, seit fast neunzig Jahren, wie die Lokalhistoriker wissen.

Der Geschäftsführer des Lokals, ein rundlicher Mann in mittleren Jahren, kennt die Geschichte anders: Es gebe den Vogel an dieser Stelle, seit das Caffè Meletti im Mai 1907 mit einem großen Fest eingeweiht worden sei. Francesco Luigi Merli, vor dem Ersten Weltkrieg der beherrschende Industrielle der Stadt, habe den Vogel kurz zuvor in Paris erworben und ihn dem Besitzer des neuen Etablissements zum Geschenk gemacht: dem Likörfabrikanten Silvio Meletti, der das ehemalige Post- und Telegrafenamt der Stadt zu einem prächtigen und modernsten Kaffeehäuser Italiens hatte umbauen lassen. Die Legende von der Schenkung ist die schönere Variante der Geschichte. Schon deshalb, weil "merli" im Italienischen den Plural von "merlo", der Drossel, bezeichnet.

Ascoli Piceno ist eine Stadt in den Marken. Zu ihr gehört eine große, mittelalterlich wirkende Altstadt, und über ihr thront eine Burg. Im Westen erhebt sich der Apennin, das Gebirge, das Italien noch im 19. Jahrhundert schärfer in zwei Hälften trennte, als die Alpen über Jahrtausende den Norden vom Süden Europas zu scheiden vermochten. Wie deutlich diese Trennung war und immer noch ist, lässt sich auf der Staatsstraße 4 verfolgen, der ehemaligen Via Salaria, die Ascoli Piceno mit Rom verbindet: Über viele Kilometer windet sie sich, meist an Flüssen entlang, durch das Gebirge, ohne dass irgendwo ein Haus zu sehen wäre. Jetzt, nach den Erdbeben, ist es zwischen den Bergen noch dunkler. Im Osten liegt, hinter Hügeln verborgen, die Adria. Eine lange Reihe von Hotelbauten aus Beton blickt dort auf das Meer, doch von den Badegästen finden nur wenige ins Inland.

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(Foto: Caffé Meletti)

Das Caffè Meletti damals...

...und in der heutigen Zeit.

Siena oder Bamberg sind historische Städte, die bewusst auf alt getrimmt werden

Ascoli Piceno, dreißig Kilometer landeinwärts gelegen, ist eine Insel, und sie ist es umso mehr, als auch die Ausläufer des Apennin von Westen nach Osten verlaufen. Die Erdbeben dieses Herbstes richteten hier bislang nur geringen Schaden an.

Die Piazza del Popolo von Ascoli Piceno ist an Schönheit kaum zu übertreffen. Auf der einen Seite des rechteckigen Platzes steht eine Kirche aus dem 13. Jahrhundert: ein strenger, grauer, in die Höhe strebender Bau, der dem Heiligen Franziskus gewidmet ist. Auf der anderen Seite erhebt sich der gotische Palast der Stadthauptleute. Zwei Drittel der Piazza sind seit dem 16. Jahrhundert von gleichförmigen Palazzetti aus roten Ziegeln umschlossen, die von Arkaden getragen werden, sodass der Platz weit und umhegt zugleich wirkt. Die gesamte Fläche ist mit großen Platten aus hellgrauem Travertin belegt. Darin spiegeln sich die Passanten, wenn es regnet, und überhaupt gilt für die Fußgänger (Automobile gibt es in der Altstadt schon lange nicht mehr), dass sie sich auf der Piazza bewegen, als wäre sie ihr Zuhause. Erst beim zweiten Nachdenken über den Platz bemerkt man, dass hier etwas fehlt, das an jedem nur halbwegs vergleichbaren Ort in der benachbarten Toskana sofort ins Auge fiele: Keiner verkauft hier Andenken. Gewiss, irgendwo wird es Ansichtskarten geben. Aber sie sind auf diesem Platz nicht sichtbar.

Jedes historische Gemeinwesen, das vom Tourismus erschlossen wird, beginnt sich zu verdoppeln. Es produziert Bilder von sich selbst, vorwiegend solche, auf denen es in einer idealisierten Altertümlichkeit erscheint. Je mehr es von diesen Bildern gibt, und je inniger sich die Stadt mit ihnen verknüpft, desto mehr kehrt sich der Prozess der Bebilderung um: Das Gemeinwesen beginnt, sich selbst als touristische Attraktion zu gestalten. Das bedeutet: Es versucht, seinem Bild ähnlicher zu werden, sodass sich die Stadt in das Bild eines Bildes verwandelt, in eine mit viel kulturhistorischer Bedeutung ausgestattete "Kulisse bürgerlicher Sentimentalität" (so der Philosoph Wolfgang Scheppe in einem Artikel über die Konstruktion historischer Stadtbilder, erschienen in der Zeitschrift Arch+, September 2016).

Das ist in Siena nicht anders als in Bamberg, und überall sehen heute solche Gemeinwesen älter und "echter" aus, als das vor zwanzig oder dreißig Jahren der Fall war. Sie sind ihrem Bild entgegengealtert, im günstigsten Fall unter strenger Aufsicht der Denkmalpfleger. In Ascoli Piceno ist das anders: Der Tourismus, der ausländische vor allem, ist nie wirklich in diese Gegend vorgedrungen. Dieses Gemeinwesen hat, in den Grenzen der Altstadt zumindest, mehrere Etappen der Modernisierung übersprungen, um an deren Ende immer noch so auszusehen wie zuvor.

Anisetta Meletti – das ist ein berühmter Anislikör aus Ascoli Piceno. Und Meletti heißt das Lokal, das auch als Drehort diente. Fotos: Caffe Meletti, Dagmar Schwelle/laif (Foto: N/A)

Das "Caffè Meletti" liegt an einer Ecke der Piazza del Popolo, hinter einer Reihe von Arkaden, deren Decken mit Malereien geschmückt sind und unter denen alte, gelbgrüne Metalltische mit passenden Stühlen stehen. Der Schriftzug an der Fassade ist zugleich Werbung für die berühmteste Likörkreation des Gründers, die "Anisetta Meletti". Zwei Stockwerke hat das Gebäude, und vor dem oberen liegt eine Terrasse, auf der manchmal ein Orchester gespielt haben soll. Das "Caffè Meletti" gehörte zu den ersten Gebäuden der Stadt, in denen es elektrisches Licht, Telefon und einen Kühlschrank gab. Das Erdgeschoss besteht aus einem einzigen großen Saal, die eisernen Säulen streben empor und schlagen zu dichten Ranken aus, und die Fresken zeigen Putten, die dem Likör huldigen. An den Wänden hängen Spiegel in Rahmen aus Kirschholz. Die Sofas sind mit dunkelgrünem Samt bezogen, die Stühle sind Originale und stammen von der Firma Thonet in Wien. Es handele sich um ein seltenes Modell, sagt die für das "Caffè" verantwortliche Architektin. Man habe dafür ein eigenes Ersatzteillager anlegen müssen. Überhaupt bedürften Haus und Einrichtung der ständigen konservatorischen Pflege. Die Statuten der Stiftung verlangten, ergänzt der Geschäftsführer, dass nur selbstgefertigte Biskuits und Torten verkauft würden.

Die Kellner tragen Smoking und lassen sich Zeit, bis sie einen Gast entdecken. Danach sind sie von lässiger Effizienz. Der Arbeitsplatz des Barista ist eine glänzende Tribüne, von der aus sich der ganze Saal überblicken lässt. Hinter ihm leuchten die Likörflaschen. Bis zum Jahr 1990 betrieben die Erben des Schnapsfabrikanten Silvio Meletti das Kaffeehaus. Dann stand es lange leer und schien zu verkommen, bis es nach einem Bürgerbegehren von der Stiftung der kommunalen Sparkasse gekauft wurde, die das Lokal restaurieren ließ. Mehrere Versuche scheiterten, das Kaffeehaus einem Pächter zu überlassen. Schließlich übernahm die Stiftung das Lokal in Eigenregie. Seit dem Jahr 2011 geht die Gesellschaft der Stadt, die Wohlhabenden wie die weniger Betuchten, wieder ins "Caffè Meletti", am späten Morgen, am frühen Abend, am Wochenende - und die Stiftung schießt immer noch kleinere Summen zu, um die Verluste zu decken.

Vor vielen Jahren entstand in Ascoli Piceno ein Spielfilm, der in Italien vor allem der Hauptdarstellerin wegen bekannt ist: "I Delfini" (deutsche Fassung: "Gefährliche Nächte"), im Jahr 1960 unter der Regie von Francesco Maselli gedreht, zeigt Claudia Cardinale in einer ihrer ersten Hauptrollen. Er erzählt von einer Gruppe junger, reicher Nichtsnutze ("i delfini" bedeutet: "die Dauphins" oder "die Thronerben") in einer Provinzstadt, die ihr Leben zu einem großen Teil im "Caffè Meletti" verbringen. Die Ecke vorne rechts am Schaufenster, wo dann mehrere Tische vor das Sofa gerückt werden und die Thonet-Stühle den Kreis vollenden, dient ihnen als öffentliches Wohnzimmer. Wenn sie mit einem Ferrari, einem Alfa Romeo und einem Lagonda (lauter Cabriolets) vor das "Caffè" fahren, dann gehört die Stadt ihnen, und alles, was sie tun und lassen, ist von allgemeiner Bedeutung. Claudia Cardinale spielt in diesem Film eine junge Frau aus armen Verhältnissen, die in den Kreis der "delfini" aufgenommen wird, zu einem hohen Preis.

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"Siamo qui", "wir sind hier", sagt der Geschäftsführer. Und das sagt eigentlich alles

Es gibt nicht viel Industrie in Ascoli Piceno: eine japanische Fabrik, die Reißverschlüsse herstellt, einen italienischen Nudelhersteller, ein wenig pharmazeutische Industrie aus den Vereinigten Staaten. In der Mitte der Stadt, an einer Stelle, wo anderswo die teuersten Modegeschäfte betrieben würden, befindet sich ein Eisenwarenhandel, in dem es Jagdmesser und Nudeltöpfe zu kaufen gibt. Im Museum der Stadt werden einige Werke Carlo Crivellis verwahrt, eines herausragenden Malers des 15. Jahrhunderts, den allzu wenige kennen. Denn er verließ Venedig, verabschiedete sich von Donatello und Jacopo Bellini und machte Ascoli Piceno zu seiner Stadt. Doch so oft die Piazza del Popolo auch in ihrer Schönheit entdeckt wurde, von Ernest Hemingway etwa oder Jean-Paul Sartre, die im "Caffè Meletti" saßen, oder von dem deutschen Schriftsteller Hanns-Josef Ortheil, der in seinem Roman "Die große Liebe" (2003) den Platz so beschreibt: "Es war eine irreal schöne Szene, ein Flirren und Ineinander-Übergehen der verschiedenen Flächen, der ganze leuchtende Platz ähnelte einem Windschiff, das gleich zu den Bergen abheben würde" - die Entdeckung scheint immer wieder rasch vergessen worden zu sein. Ascoli Piceno gehört in die Provinz, und die Provinz ist heute vermutlich tiefer denn je, so tief, dass man sich fragt, wovon sie eigentlich lebt.

Im Film "I delfini" gibt es eine Szene, in der die Gräfin, die vermeintliche Herrin über die Gesellschaft der feinen Tagediebe, nach dem Grund gefragt wird, warum sie überhaupt in dieser Stadt lebe. Sie antwortet: "Pensare che i suoi antenati hanno fondato la città" - "Zu wissen, dass die eigenen Vorfahren die Stadt gegründet haben." Das ist eine rhetorische Antwort. Auch der Geschäftsführer des "Caffè Meletti" guckt ratlos, als er gefragt wird, ob eine Einrichtung wie sein Haus nur fernab der touristischen Zentren und der großen Verkehrswege noch bestehen könne. "Siamo qui", sagt er, "wir sind hier." Wer versucht, solche Verhältnisse zu beschreiben, benutzt gern die Kategorie des "Authentischen". Aber das "Authentische" gibt es erst, wenn Original und Kopie geschieden sind. In Ascoli Piceno scheint diese Trennung noch gar nicht erreicht zu sein. Die Stadt wirkt also noch nicht einmal "authentisch", auch wenn man bemerkt, dass die Verwaltung für das "centro storico" offenbar eine Verordnung zur Gestaltung von Blumenkästen erlassen hat: Sie zieren überall die Fenster im ersten Stock und sehen genau gleich aus.

Der Film "I delfini" ist eine Reflexion über ein Italien der Regionen und souveränen Städte, über ein altes Italien mithin, das längst überwunden zu sein scheint. Wie sonst wäre der Ferrari 250 GT, mit dem der Schlimmste unter den "delfini" herumfährt, in diese Gegend gekommen, ganz zu schweigen vom Lagonda 2,6 Litre, einer britischen Luxuslimousine aus den Vierzigern? Die Lokalgeschichte erzählt, es habe für die Gesellschaft der jungen Nichtsnutze ein historisches Vorbild gegeben: eine Gemeinschaft der Wohlhabenden, der Mächtigen und der Intellektuellen der Stadt, die sich zuerst "balilla" nannte (nach der faschistischen Jugendorganisation oder nach dem italienischen Wort für Tischfußball, "calciobalilla", man weiß es nicht) und dann "senato". Beide Namen dürften ironisch gemeint gewesen sein. Die regelmäßigen Treffen im "Caffè Meletti" wurden in den Siebzigern aufgegeben.

Der Besucher wird allerdings den Verdacht nicht los, dass es den "senato" immer noch gibt: Vielleicht ist er nur in den Aufsichtsrat der Sparkassenstiftung gewechselt, die dafür sorgt, dass das "Caffè Meletti" erhalten bleibt.

© SZ vom 26.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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