Lebenskonzepte:Arm, allein, zufrieden

Warum sucht ein Mensch die Einsamkeit - nicht kurz, sondern für das ganze Leben? Besuch bei einer glücklichen Eremitin.

Von Matthias Drobinski

Man kann ihn schon schmecken, den Sommer, der endlich kommen soll. Das Gras, die jungen Brennnesseln und der Löwenzahn, alles will wachsen und sich verströmen, durch die Nase hindurch bis auf die Zunge; eine Ahnung des Paradieses liegt über dem Häuslein aus Fachwerk und roten Ziegeln, das da mitten im Grünen steht. Man übersieht es leicht, das geduckte Anwesen hinter den Büschen und Bäumen, das einst Heuerleute bauten, Kleinbauern, die einen Flecken Land von den Grundbesitzern bekamen und dann für sie schuften mussten. Nicht jeder soll wissen, wo Maria Anna Leenen wohnt, die Einsiedlerin. Wer sie besuchen will, muss versprechen, den Ort nicht zu verraten. Irgendwo nördlich von Osnabrück, das muss genügen. Und Fotos bitte nur von hinten.

Sie hat, weil Besuch kommt, den Ofen in der Küche angeheizt, wo die abgeschabte Eckbank steht und der vernarbte Tisch; der Raum hat noch die Kälte in der Wand gespeichert. Im Winter ist es hier überhaupt nicht paradiesisch. Da fährt der Wind durch Fensterritzen und Türschwellen, der Frost nistet im Schlafzimmer, das Leben beschränkt sich auf die paar Quadratmeter, die der Ofen heizt, das kalte Wasser der Dusche schmerzt. Und wenn eine Wasserleitung friert und platzt, muss Maria Anna Leenen jemanden suchen, der sie kostenlos repariert. "Am Anfang fiel es mir schwer, auf alles zu verzichten", sagt sie, "jetzt macht das keine Mühe mehr." Im nächsten Jahr wird Maria Anna Leenen 60, manchmal tut das Knie weh. Ein bisschen Luxus gönnt sie sich inzwischen, einen Kühlschrank, eine Waschmaschine, einen kleinen Ofen, in dem man Pizza backen kann, die liebt sie. An ihrem ersten Weihnachtsfest in der Einsamkeit hat sie versucht, eine Tiefkühlpizza auf dem Holzofen aufzubacken, die war dann unten verbrannt und oben noch kalt.

Die Einsamkeit. Ihretwegen zahlt die rundliche, zupackende Frau mit den weißen Haaren und dem jungen Mundwerk diesen Preis. Sie ist Eremitin, nicht aus Menschenfeindschaft, sie will in der Einsamkeit näher bei Gott sein. Normalerweise schwimmt und strampelt der Mensch an der Oberfläche des Lebens, sagt sie. In der Stille lernt er, sich hinabsinken zu lassen, den Grund zu suchen. Sie hat Franz-Josef Bode, dem Bischof von Osnabrück, gelobt, arm zu leben, keusch und gehorsam. Gerade einmal 80 Menschen in Deutschland leben auf diese Weise als Eremiten. Dabei ist dies eine der ältesten Formen des christlichen Mönchtums. Im 3. Jahrhundert schon zog der Heilige Antonius in die Wüste, um näher bei Gott zu sein, erst aus dieser Eremiten-Bewegung entstand das Mönchtum. Trotzdem misstraut mancher Bischof dieser Lebensform: Man kann nicht kontrollieren, was so ein Einsiedler den ganzen Tag macht, ob er nicht doch eher das Aussteigen im Sinn hat als Gott.

Es ist ein zutiefst religiöses Leben, sagt Maria Anna Leenen. Morgens, mittags, abends und auch nachts sitzt sie da und betet, wirft sich vor Gott in ihrer Einsamkeit. Sie tut das stellvertretend für die Einsamen der Welt, die Alleingelassenen, für jene, die in all ihrer Betriebsamkeit nur noch Leere spüren. Das ist ja das Verrückte, sagt sie, "wir sind vernetzt wie nie und einsam wie nie". Romantisch sei das nicht. Alles ablegen, die Stille aushalten, das geht oft an die Grenze des Erträglichen. Alles Schwache, Jämmerliche und Erlösungsbedürftige in einem kommt zum Vorschein. Wer sich unter die Oberfläche sinken lässt, dem öffnet sich auch der Abgrund.

Eremitin

Schön leer hier: Maria Anna Leenen ist kein Mensch, der sich vor der Welt versteckt. Gesicht und Adresse möchte sie dennoch nicht in der Zeitung sehen.

(Foto: Friso Gentsch/dpa)

Rausgehen? Es ist zu schön, um am Tisch sitzen zu bleiben. Draußen lärmen die fünf Zwergziegen, die der Einsiedlerin Gesellschaft leisten, sie riechen das junge Gras, springen aufs Schuppendach und wieder herunter, testen ihre Hörner. "Ich mag Ziegen", sagt die Einsiedlerin. Ziegen haben ihren eigenen Kopf, sind kompliziert und nie ganz zu zähmen. Schafe findet sie langweilig in ihrer Unterordnung. Eine strohfarbene Katze duckt sich mit misstrauischem Blick. "Männer mag sie nicht", sagt Maria Anna Leenen. Das Tier hat die Ratten verjagt, die sich als Herren von Haus und Garten sahen. Morgens lagen ein paar von ihnen tot im Brunnen, der dem Haus Wasser gibt. Seitdem trinkt die Eremitin lieber Mineralwasser.

Im Dezember 2004 ist sie hier eingezogen. Das Haus, in dem sie zuvor lebte, war unbewohnbar geworden. Auch hier war überall Müll vergraben, die Bleibe eine Bruchbude. Der Arzt, der ihr das Haus vermietete, hielt sie für verrückt, seine Frau aber war begeistert. Fast hundert Menschen haben geholfen, die Klause herzurichten. Und immer, wenn die neue Bewohnerin dachte, es gehe nicht weiter, stand da jemand und sagte: "Ich hab' was für Sie." Sankt Anna heißt das Häuslein nun, nach der Schutzpatronin der Ungeduldigen.

Ungeduldig war sie auch in ihrem früheren Leben, als sie noch die Conny war. Sie lebte ein wildes Leben, hielt es nie lange an einem Platz aus, 24 Mal ist sie umgezogen, und auch die Beziehungen wechselten oft. Sie war Handballerin, segelte, tauchte, arbeitete als Physio- und Reittherapeutin, bereiste die Welt. Dann kommt das Jahr 1985, sie hat eine Arbeit in Venezuela angenommen, eine Liebe ist zu Ende, ein bisschen verloren reist sie durchs Land. Im Bus gibt es nichts zu lesen, nur ein Buch über Marienerscheinungen. Und ausgerechnet das packt sie, ausgerechnet dort liest sie den Satz aus dem Johannesevangelium: "Jesus Christus ist das Wort; er ist der Weg, die Wahrheit und das Leben." Vier Sekunden dauert es, den Satz zu lesen. Dann ist ein Riss in der Mauer, das Licht einer bislang fremden Welt scheint hindurch.

Sie wird katholisch. Sie tritt in ein Klarissenkloster ein. Sie mögen sich, die alten Nonnen und die 32-Jährige. Doch sie bleiben sich fremd. Es folgen ein tränenreicher Abschied und ein weiterer Versuch in einer anderen Gemeinschaft. Sie ist nicht fürs Ordensleben geeignet, sie braucht die Unabhängigkeit, das Alleinsein. Sie verschenkt ihren restlichen Besitz und fühlt sich frei wie nie. In den ersten Jahren ihrer Einsiedelei hungert sie manchmal, so knapp ist das Geld. Im Lauf der Jahre hat sie sich eine Finanzierung auf niedrigem Niveau aufgebaut. Es gibt jetzt einen Forellenteich. Sie schreibt Bücher, gerade den ersten Roman. Sie verziert Kerzen und verkauft sie als Oster-, Tauf- oder Hochzeitslichter.

Eremitin

Ein Haus für den Glauben: Morgens, mittags, abends und auch nachts wirft sich die 59-Jährige vor Gott.

(Foto: Friso Gentsch/dpa)

Einsam sein heißt ja nicht zu vereinsamen. Es kommen immer Leute vorbei, inzwischen ganze Gruppen, zehn Anmeldungen hat sie schon für dieses Jahr, manchmal wird ist es ihr zu viel Rummel in der Einsamkeit. Der Einsiedler als Besichtigungsobjekt, auch das ist in der Geschichte des Eremitentums nicht neu: Schon als Antonius in die Wüste zog, war der Strom der Besucher bald so groß, dass er immer weiter in die Wildnis floh, um dem Rummel zu entkommen.

Es kommen aber mehr Ratsuchende als Schaulustige, sagt sie. Die kaufen eine Kerze und fangen an zu erzählen. Oder sie sind vom Dorf hinausgelaufen und stehen vor der Tür. Oder es bleibt von der Besuchergruppe einer zurück, druckst erst herum und packt dann aus. Es geht um Beziehungsprobleme, Krankheit und Tod, Glaubens- und Sinnkrisen. Maria Anna Leenen hat eine Menge vom Leben gesehen, sie schockiere wenig, sagt sie. Sie höre vor allem zu. Das sei auch eine Art des Schweigens. So, wie die Stille knapp geworden ist, sei auch das antwortlose Zuhören ein kostbares Gut geworden. Und manchmal wüssten die Leute danach viel besser, was sie tun müssen oder wo ihre Lebenslügen sitzen, als wenn sie zugetextet worden wären.

Zeit zum Abendgebet. Am Bad vorbei geht es in die Kapelle, sie hat einen warmen Holzboden, Gebetshocker stehen da und zwei Stühle, Bücher mit Psalmen und Lesungen. Ein Freund hat ihr einen Tabernakel für die geweihten Hostien gebaut, einmal im Monat kommt ein Priester und liest die Heilige Messe. Ein Kreuz ist auf die Wand gemalt, an einer Stelle gibt der Putz die Backsteinmauer frei, rechts grüßt die Ikone der Heiligen Anna. Hierhin kommt die Eremitin, wenn ihr das Leid der Welt keine Ruhe lässt. Als die Germanwings-Maschine in Frankreich an der Bergwand zerschellt war, saß sie hier und betete, für die Toten und ihre Angehörigen, für den Copiloten, der Täter geworden war. Es hilft, davon ist sie überzeugt. Natürlich kann sie das Leid nicht wegbeten. Aber es macht die Welt anders, wenn eine einsame Frau irgendwo hinter Osnabrück Gott bittet, er möge den Trauernden und Verzweifelten Mut und Lebenssinn und tröstende Menschen schicken. Davon ist sie überzeugt.

Sie zündet die Kerzen an, schweigt, betet einen Psalm. Selbst der Wind, der nun eigentümlich schwül übers Land bläst, scheint eine Pause zu machen. "Hier möchte ich sterben", sagt sie. Die Zeit der Umzüge ist vorbei. Ein kleiner Trägerverein versucht gerade, das Haus zu kaufen, doch die Verhandlungen stocken, eine harte Geduldsprobe für sie. Es braucht doch Orte für Einsiedler, für ein eremitisches Leben in Deutschland. Neulich erst hat eine junge Frau gefragt, Anfang 30, mit gutem Job, ob das was wäre für sie.

Ein Margarinebrot mit Camembert zur Nacht. Dann haucht der Ofen, der extra für den Gast aus der Stadt angeworfen worden war, seine letzte Wärme aus.

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