Leben mit behindertem Kind:"Ich wünsche mir eine Welt voller Fünfjähriger"

Flashmob zur Inklusion

Aufgemalter Rollstuhl bei einer Aktion für die Rechte Behinderter: "Für mich ist 'behindert' kein Stigma, sondern eine Tatsache, sagt die Autorin Sandra Roth

(Foto: dpa)

Kurz vor Lottas Geburt stellen Ärzte fest, dass ihr Hirn nicht richtig durchblutet wird. Heute ist sie drei Jahre - und schwerbehindert. Ein Gespräch mit ihrer Mutter über Belastungen, Stigma, aber auch Glück. Und warum sich ihr Sohn wünscht, dass seine Schwester einmal Angela Merkel wird.

Von Lars Langenau

Die Journalistin Sandra Roth, geboren 1977, lebt mit ihrem sechsjährigem Sohn, ihrer dreijährigen Tochter und ihrem Mann in Köln. Bei ihrem zweiten Kind entdeckten Ärzte im neunten Monat der Schwangerschaft bei einer Routineuntersuchung, dass das Gehirn ihrer Tochter nicht ausreichend mit Blut versorgt wird. Die seltene Gefäßfehlbildung "Vena-Galeni-Malformation", die in Deutschland statistisch nur bei 27 Neugeborenen im Jahr auftritt, wird diagnostiziert. Heute ist Lotta zu 100 Prozent schwerbehindert. Lotta, die eigentlich anders heißt, kann weder krabbeln noch gehen, hat eine ausgeprägte Spastik, Epilepsie und ist schwer sehbehindert. Roths Buch "Lotta Wundertüte. Unser Leben im Bobbycar und Rollstuhl" ist bei Kiepenheuer & Witsch erschienen.

SZ.de: Frau Roth, Sie schreiben, Sie hatten bis zu der Diagnose keine Erfahrung mit Schicksalsschlägen. Ist 'Schicksalsschlag' überhaupt das richtige Wort?

Sandra Roth: Lotta ist jedenfalls kein Schicksalsschlag. Sie ist meine Tochter. Aber sie hat eine Hirnschädigung. Die kann man, wenn man will, als Schicksalsschlag bezeichnen oder wie die Ärzte als Laune der Natur. Unser Leben verläuft inzwischen recht normal. Nur, dass wir oft beim Arzt sind oder bei der Physiotherapie - und dass neben dem Müsli Medikamente stehen. Mir fällt das nicht mehr auf. Anderen schon. Genauso wenig normal sind sicher Lottas sieben Operationen in drei Jahren.

'Die Liste dessen, was Lotta nicht kann, ist lang, doch die Liste dessen, was sie kann, ist länger', schreiben Sie in Ihrem Buch.

Es sind kleine Dinge, die mich und meinen Mann freuen: Etwa wenn sie ihren Kopf gerade halten kann. Dann ist das etwas sehr Großes für uns. Oder dass Lotta den Mund aufmacht, wenn ich sie füttere. Sie sieht den Löffel schließlich nicht. Allerdings beansprucht jede Mahlzeit zwischen einer halben und einer Dreiviertelstunde.

Sie sagten vor unserem Interview, dass Lotta gerade im Kindergarten ist. Ist das ein spezieller für behinderte Kinder?

Nein, es ist ein ganz normaler Kindergarten, 15 Kinder zwischen einem und sechs Jahren, zwei Erzieher. Wir haben jetzt zusätzlich eine Integrationshelferin für Lotta, die sie während dieser Zeit betreut. So kann Lotta dort alles mitmachen und wird gleichzeitig gefördert. Wenn sie etwa im Sandkasten sitzt, hilft ihr die Integrationshelferin die Hände zu öffnen, um den Sand zu fühlen. Meine Tochter hat viel Potenzial, aber das muss man erst wachküssen.

Wie haben die anderen Kinder reagiert?

Die Älteren haben erst mal Abstand gehalten. Doch schnell kamen Fragen: Was hat sie denn? Warum sabbert sie denn so? Nachdem das geklärt war, kam die Frage: Was spielen wir jetzt? Und dann war Lotta dabei. Ich wünsche mir eine Welt voller Fünfjähriger. Die trauen sich alles zu fragen, was wir uns schon lange nicht mehr trauen zu fragen. Da ist das dann auch nicht verletzend, wenn einer sagt: Ich finde das aber eklig, wie die sabbert.

Was ist anders in der Erwachsenenwelt?

Bei Kindern merkt man keine Befangenheit. Da wird sofort gefragt, man gibt eine Antwort und damit ist das Thema auch erledigt. Mitleid, also das von oben herab, kennen kleine Kinder nicht, auch keine Hemmungen. Da sagt auch mal einer: 'Lotta ist meine Freundin, weil die mich nie haut.' Kann sie ja gar nicht.

Was wünschen Sie sich von Ihrer erwachsenen Umwelt?

Natürlichkeit. Im Zweifel eher fragen als gaffen. Am meisten freue ich mich, wenn mich jemand beispielsweise auf die schöne Jacke meiner Tochter anspricht. Sachen eben über die man sich auch unterhalten würde, wenn das Kind im Kinderwagen säße und nicht im Rollstuhl. So zu tun, als ob nichts wäre, meine ich damit nicht. Das möchte ich auch gar nicht. Ich wollte, es wäre überall ein bisschen mehr wie im Kindergarten. Da ist Lotta nicht das Kind mit Behinderung, sondern einfach die Lotta. Man sieht nicht den Rollstuhl, sondern das Kind, den Menschen.

In Ihrem Buch schwanken Sie oft zwischen Galgenhumor und natürlichem Witz. Kann man vielleicht nur so mit der Situation umgehen?

Natürlich ist mit Humor vieles viel leichter zu ertragen und manches ist ja tatsächlich witzig. Etwa die Antwort meines Sohnes auf die Frage, was er sich zum Schulanfang wünscht: einen Rollstuhl. Auf die Seitenflächen kann man etwas draufkleben und er will einen Rollstuhl mit Vereinslogo. Allerdings kann er sich nicht entscheiden zwischen 1. FC Köln oder BVB. Nun, muss er in dem Fall auch nicht: Er kann ja laufen und kriegt keinen.

Ihre Tochter hat neben ihren schweren Behinderungen auch noch Epilepsie. Wie beeinträchtigt Sie das zusätzlich?

Die Epilepsie wird sie das ganze Leben begleiten. Nach mehreren lebensbedrohlichen Anfällen haben wir das inzwischen mit Medikamenten ganz gut in den Griff bekommen. Ein Arzt hat mir mal geraten, mein Leben von dieser Krankheit nicht bestimmen zu lassen - und ich finde, das gilt auch ganz allgemein für Lottas Behinderung. Schließlich hat auch Lotta Alltag verdient, darf auch mal auf dem Spielplatz rumhängen statt immer in Therapie zu sitzen und kommt selbstverständlich mit in den Zoo, auch wenn sie die Tiere nicht sieht.

Sie schreiben, dass Sie eine Geburt geplant haben und dann an eine Bestattung denken mussten. Wie ist das heute?

Wenn ich einen Krankenwagen sehe, der in Richtung Kita fährt, oder wenn das Telefon klingelt und der Kindergarten ist dran, dann wird mir immer noch schlecht. Allerdings ist es auch eine gute Erfahrung, zu wissen, dass sich die Welt weiterdreht, egal wie schlecht es einem geht. Alles geht vorbei, irgendwann. Oder vielleicht nicht alles, aber das meiste. Manchmal hilft einfach nur: nicht verzweifeln, weitermachen, bis es wieder besser wird. So wie bei Lottas Epilepsie, wir hatten schon sehr lange keinen Notarzteinsatz.

Haben Sie den Eindruck, dass Lotta zufrieden ist mit ihrem Leben?

Um Glück zu empfinden, muss man nicht laufen können, um zu lieben, nicht sehen können. Laut einer belgischen Studie stufen sich Locked-in-Patienten, also Menschen, die nur noch per Wimpernschlag kommunizieren können, zu 72 Prozent als zufrieden ein. Und Lotta kann sich zwar nicht selbst an die Nase greifen, aber doch einiges mehr, als diese Menschen.

Können Eltern ihrem Kind manchmal einfach nur die Nähe geben?

Eine Erfahrung, die auch viele Eltern von Frühchen machen, ist: Wenn ein Kind in Narkose auf der Intensivstation liegt und man singt ihm etwas vor, dann sieht man, wie sich der Herzschlag beruhigt. Manchmal kann man eben auch in Situationen, in denen man sich als Eltern komplett hilflos fühlt, mit Kleinigkeiten sehr viel bewegen. Lotta konnte erst mit einem halben Jahr lächeln. Derzeit geht es ihr körperlich zum ersten Mal in ihrem Leben richtig gut, sie lacht laut und kichert nachts im Schlaf. Das ist ein großes Geschenk.

Sie beschreiben Ihre positiven Erfahrungen mit Ihren Mitmenschen, wenn Sie alle Fakten über den Zustand Ihres Kindes auf den Tisch legen.

Wenn ich von Lotta sehr offen erzähle, beginnen die Gespräche plötzlich auf einem völlig anderen Niveau und auch die anderen öffnen sich. Alle haben doch Probleme: Manche erzählen dann von ihren Krankheiten, andere von Trennungen, Scheidungen. So unterschiedlich das alles ist: Die Kluft, die sich so oft mit einem behinderten Kind auftut, kann man so überbrücken.

Sie sprechen sehr offen von Ihrem 'behinderten' Kind. War das immer so?

Ich beschreibe in dem Buch einen Prozess, den ich durchlaufen habe. Heute kann ich mir kaum noch vorstellen, dass ich das 'B-Wort' gesagt habe, und nicht einfach "behindert".

'Behindert' ist also inzwischen ohne Stigma für Sie?

Ich kann das für mich mit Ja beantworten. Wenn andere Eltern das nicht wollen, ist das völlig in Ordnung. Ich möchte niemanden mit meinen Worten verletzen. Aber mein Leben wird sonst unnötig kompliziert. Wir sind sowieso sehr gehemmt bei solchen Themen. Wenn wir dann noch unsicher sind, welches Vokabular wir benutzen dürfen, drohen wir ganz zu verstummen. Ändern wir die Welt, wenn wir die Sprache ändern, mit der wir darüber reden? Es geht doch darum, wie wir miteinander umgehen und mit welcher Einstellung wir Wörter benutzen. Für mich ist 'behindert' kein Stigma, sondern eine Tatsache.

Sie schreiben, dass Sie kein politisches Statement zur Welt bringen wollten, sondern ein Baby. Dabei zweifeln Sie ja doch oft an Ämtern und Behörden.

Ein Beispiel ist der Integrationshelfer für den Kindergarten, den bewilligt zu bekommen, hat elf Monate gedauert. Es sind viele kleine Kämpfe. Ich würde es toll finden, wenn es eine 'inklusive' Gesellschaft gibt, in der alle Bürgersteige abgesenkt sind und meine Tochter ganz selbstverständlich auf eine normale Schule gehen kann. Aber davon sind wir noch weit entfernt. Bis das so weit ist, konzentriere ich mich darauf, für meine Tochter das Leben so weit hinzubekommen, dass es für uns funktioniert. Meine ist ja nur eine Geschichte von vielen, geschrieben aus einer privilegierten Situation: Ich habe viel Unterstützung durch meine Familie, kann mir Auszeiten nehmen - und mir bei der Auseinandersetzung mit den Behörden notfalls einen Anwalt leisten. Nur was ist mit den Menschen, die das nicht können und alleine dastehen?

Wünschen Sie sich oft Ihr altes Leben zurück? Das Leben vor Lotta?

Das gibt es nicht mehr. Das ist natürlich eine Erfahrung, die alle Eltern machen, dass sich mit Kind das Leben komplett ändert. Aber ich wünsche mir mein altes Leben auch nicht zurück, ich würde auf meine Tochter nicht verzichten wollen. Mein Mann und ich sind nun Mitglieder eines sehr exklusiven Fanclubs. Nur wenige finden unsere beiden Kinder so toll wie wir.

Definieren Sie Glück heute anders?

Meine Tochter kann lachen und das macht mich glücklich. Wenn man es einmal schafft, die ganzen Erwartungen loszuwerden, dann ist jeder kleine Fortschritt eine Freude und sei es nur eine geöffnete Hand. Aber bis dahin war es ein weiter Weg. Heute kann Lotta 'Hunger' und 'Mama' sagen. Und mein Mann wünscht sich 'Papa'. Ziemlich dringend.

Wie geht Ihr Sohn Ben mit Lotta um?

Mein Sohn will im Moment, dass Lotta überall dabei ist. Und wenn überhaupt weitere Geschwister - dann nur ein behindertes. Weil die süßer sind, sagt er. Seine Schwester ist für ihn per se die Schönste. Außerdem kann sie ihm keine Spielsachen wegnehmen - das ist ein entscheidender Vorteil aus der Sicht eines Sechsjährigen. Tatsächlich geht ja mehr als man denkt, auch mit einem schwer mehrfach behinderten Kind. Vergangenen Winter hatten wir ein Luxusproblem: Sollen wir Ben das Skifahren beibringen? Auch wenn seine Schwester das wohl nie lernen wird? Familienurlaub mit allen auf Skiern wird es bei uns nie geben. Wir sind dann auf die Zugspitze gefahren und haben es probiert. Wir haben uns auch einen Schlitten ausgeliehen. Lotta hat gejuchzt vor Freude, als wir den Berg runtergesaust sind. Auf meinem Schoss, nicht sehend wohin es geht, blind in die Tiefe sausen - sie fand das super. Und mein Sohn? Der findet Skifahren blöd.

Wie blicken Sie in die Zukunft?

Was später mal aus Lotta wird, wer weiß? Gerade will mein Sohn Fußballspieler werden, in der Nationalmannschaft. Entweder als Torwart oder als Stürmer. Er hat mich gefragt, was Lotta denn später mal wird, die könne ja nichts. Irgendwas kann sie bestimmt, habe ich geantwortet. Ich weiß, hat er gesagt, ich weiß, was Lotta mal wird. Die ist immer bei den Spielen dabei und freut sich so prima, wenn ich ein Tor mache. Das kann sie gut - ist doch logisch, was die wird: Angela Merkel. Nur klatschen müsse Lotta noch üben.

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