Krieg in Syrien:Anruf aus dem Bombenhagel

People dig in the rubble in an ongoing search for survivors at a site hit previously by an airstrike in the rebel-held Tariq al-Bab neighborhood of Aleppo

Aleppo ist unter Beschuss, seit Monaten. Noch immer leben Menschen in den zerstörten Vierteln.

(Foto: REUTERS)

Die Tochter unseres Autors weigert sich beharrlich, aus Aleppo wegzugehen. Wenn das Telefon klingelt, ist er auf das Schlimmste gefasst.

Von Nihad Siris

Wenn das Telefon hartnäckig und beharrlich klingelt, weiß ich, dass meine Tochter Schahla anruft. Sie lebt mit ihrer Familie noch immer in Aleppo und weigert sich wegzugehen, weil die Eltern ihres Mannes alt und pflegebedürftig sind.

Mit ziemlichem Herzklopfen nehme ich den Anruf entgegen, immer auf das Schlimmste gefasst. Meine Tochter ist eine sehr freundliche Person. Sie fragt immer zuerst, wie es mir geht, als ob mein Rheumaleiden wichtiger wäre als ihre und ihrer Familie Sicherheit. Doch bei ihrem letzten Anruf konnte sie nicht so rasch fragen. Sie weinte, und im Hintergrund hörte ich auch ihre beiden Kinder, Dschad und Lina, weinen.

Die Gegend war unter Beschuss, und eine Granate hatte das Gebäude, in dem wir wohnten, getroffen und die Fenster zertrümmert. Ohne weiter nachzudenken, aber instinktiv richtig flüchtete sie sich zusammen mit den Kindern ins Klo. Im Innern der Wohnung gelegen, ist dieses stille Örtchen von nicht mehr als einem Quadratmeter die bei Weitem sicherste Stelle im Haus. Es gibt keine Fenster auf die Straße hinaus, und gelüftet wird nur durch eine Luke von vielleicht vierzig auf vierzig Zentimetern, die in einen Lichtschacht führt.

Im Versuch, sie zu beruhigen, sprach ich stundenlang mit ihr. Sie redet gern, meine Tochter, und ich muss ihr einfach zu allem, was mir in den Sinn kommt, Fragen stellen. Dann vergisst sie ihre Situation und spricht. Im Hintergrund konnte ich die Detonationen hören, und bei jedem Granateinschlag in der Nähe schrie Schahla auf, danach sprach sie weiter. Ebenso machten es die Kinder: Auch sie diskutierten nach einem Aufschrei weiter, wer bei ihrem Spiel gewonnen, wer verloren hatte.

Erinnerung an bessere Zeiten

Akûb sei gekommen, um sich nach ihnen zu erkundigen, erzählte Schahla. Er habe ihnen seine Hilfe angeboten. Akûb, mein Freund seit Kindertagen, als wir noch in der Altstadt von Aleppo wohnten, ist Armenier und mag mich ebenso wie ich ihn, weil ich mich nie über sein eigentümliches Arabisch lustig gemacht habe.

Er wohnte mit seiner Familie unweit von uns in Akjûl, in einem der Häuser, welches die Bewohner von Aleppo "Armenier-Baracken" nannten - einst in aller Eile errichtete Behausungen für die Armenier, die während des Ersten Weltkriegs aus der Türkei vertrieben worden waren. Akûb hat mir die Augen für die Armenierfrage geöffnet. Auf unseren Streifzügen durch die engen Gassen der Stadt hat er mir viel davon erzählt.

Als ich "Nordwinde" schrieb, meinen ersten Roman (er spielt in jener Zeit und erzählt, wie die Araber während ihrer Befreiung von osmanischer Herrschaft sich als eigenständige Nation, die arabische, nicht die türkische, zu verstehen begannen), rief ich mir all das in Erinnerung, was Akûb mir erzählt hatte, fügte dem noch Fakten aus einigen ernst zu nehmenden Studien über die Armenierfrage hinzu und führte zahllose Interviews mit betagten Personen durch, die Zeitzeugen gewesen waren.

Am meisten rührte mich während dieser Recherchearbeit, wie zuvorkommend die Bewohner von Aleppo, die ja in neuester Zeit wegen des Krieges ihre Wohnungen verlassen und in anderen Staaten Zuflucht suchen mussten, einst diese Armenier empfangen und unterstützt hatten. Unter den in den Jahren 1915 und 1916 angekommenen Armeniern waren viele verwaiste und verarmte junge Mädchen, die auf Gehwegen schliefen.

Viele von ihnen wurden in aleppinische Familien aufgenommen. Doch weil diese Mädchen kein Arabisch sprachen und den Leuten deshalb ihre Namen nicht angeben konnten, nannte man sie alle Marjam, also Maria. So wollten die Aleppiner die Religion dieser Mädchen, das Christentum, unangetastet lassen, und ihnen keine islamischen Namen aufzwingen. Ich habe damals einige schon hochbetagte Frauen mit dem Namen Marjam kennengelernt.

Onkel Wahîd ist dem Tod entronnen

Ganz in der Nähe gab es eine weitere Detonation, und gleich darauf begann meine Tochter, sekundiert von ihren Kindern, zu schreien und zu weinen. Als sie sich wieder beruhigt hatte, erzählte sie, irgendwo im Haus seien Dinge zu Bruch gegangen. Das sei nicht so schlimm, tröstete ich sie, solange nur sie unversehrt blieben.

Lassen wir das, sagte sie, und erzählte weiter. Wirklich süß, meine Tochter Schahla! Nichts kann ihren Redefluss stoppen.

Onkel Wahîd, berichtete sie, mein jüngerer Bruder, der in dem von Rebellen gehaltenen Ostteil der Stadt eine Apotheke besitzt, sei wie durch ein Wunder dem Tod entronnen. Diesmal war es an mir, einen Schreckensschrei auszustoßen, worauf sie offenbar bedauerte, die Geschichte überhaupt erwähnt zu haben, und den Vorfall herunterspielte.

Auf dem Heimweg vom Ostteil der Stadt, noch vor der Demarkationslinie zwischen dem Regimeteil und dem Rebellenteil der Stadt, habe ein Heckenschütze mehrere Schüsse auf sein Auto abgegeben, ohne jedoch zu treffen, wie sie behauptete. Doch das sagte sie nur, um mich nicht zu beunruhigen. Als ich nämlich am nächsten Tag meinen Bruder anrief, erzählte dieser mir, das Auto sei vorne getroffen worden, ihm selber aber sei nichts geschehen. Als der Motor den Geist aufgab, seien Leute herbeigeeilt, um ihm zu helfen. Sie holten ihn aus dem Auto und brachten ihn rasch an einen sicheren Ort. Ich beglückwünschte ihn zu seiner Rettung und legte ihm nahe, nicht mehr zur Arbeit zu gehen. Wovon sie denn dann leben sollten, fragte er. Da verstummte ich.

Früher war der Stadtbasar eine einzigartige Kulisse

Ich bemerkte, dass die Detonationen aufgehört hatten. Um das Haus herum war es still geworden. Nicht einmal mehr die Kinder waren zu hören. Gerade wollte ich Schahla vorschlagen, ihren "geruchsintensiven" Zufluchtsort zu verlassen und ins Bett zu gehen, doch eine heftige Detonation ließ mich davon absehen. Nachdem sie sich ein weiteres Mal beruhigt hatte, wollte sie offenbar Erfreulicheres berichten.

Hadsch Salîm, sprudelte sie los, ein sehr guter Freund von mir, habe seinen Laden unversehrt wiedergefunden, nachdem man ihm erzählt hatte, er sei bei den Auseinandersetzungen zwischen den Widerstandskämpfern und der Regierungsarmee im historischen Stadtbasar in Flammen aufgegangen. Bei einem Telefongespräch einige Zeit zuvor hatte er mir erzählt, man habe ihm berichtet, alle Läden in der Chairi-Bey-Karawanserei seien zerstört oder ausgebrannt.

Stoffhändler will Schauspieler werden - und verarmt

Dieser Hadsch Salîm ist Stoffhändler. Seinen Laden hat er von seinem Vater übernommen und nach dessen Tod weitergeführt. Doch sein Herz schlug für die Kunst, und eigentlich wollte er den Handel an den Nagel hängen und Schauspieler werden. Als wir die Fernsehserie "Die Seiden-Karawanserei", deren Drehbuch ich in den 1990er-Jahren schrieb, im Stadtbasar drehten, wo die Geschichte spielt, kam Hadsch Salîm und bot seine Unterstützung an. Er sei ein Händler und bestens geeignet, die Rolle eines aleppinischen Händlers zu übernehmen.

Mir war er sympathisch, und ich unterbreitete sein Angebot dem Regisseur, der ihm eine kleine Rolle als Händler gab - unter der Bedingung, nicht zu schauspielern, sondern sich ganz natürlich zu verhalten. So geschah es, und wir wurden Freunde. Danach vernachlässigte er sein Geschäft, suchte Kontakt mit Künstlern und Filmleuten und dachte nur noch an die Schauspielerei, sei es auf den Brettern einer Bühne oder beim Fernsehen. Doch dann ließ seine Frau sich scheiden und seine Kinder drohten, ihn wegen Vernachlässigung vor Gericht zu bringen, wenn er sich nicht wieder um seinen Laden kümmere.

Wegen seiner Kontakte mit Künstlern war die Familie verarmt. Doch die Geschichte vom ausgebrannten Laden erwies sich als unwahr. Ich erfuhr, dass es ihm gelang, zur Chairi-Bey-Karawanserei zu gelangen und sich dort selbst ein Bild zu machen. Alle Läden dort waren schwer beschädigt oder gänzlich zerstört, nur der seine nicht. Doch er öffnete ihn nicht mehr, weil er, wie er mir am Telefon sagte, nur über die Trümmer der anderen Läden und Karawansereien dieses großartigen Marktes dorthin kam, etwas, was ihm immer einen Stich versetzte und ihn deprimierte. Deshalb ließ er den Gedanken fallen.

Leben und Schlafen nach dem Angriff

Der Stadtbasar ist ein weitläufiges Geflecht aus engen, beidseits von Läden gesäumten Sträßchen. Jedes Handwerk hat seinen Basar, und die Erkundung dieser insgesamt 37 Einzelbasare ist ein faszinierender Streifzug, den ich immer wieder gern unternahm. Die Straßen sind acht Kilometer lang und bedecken ein Areal von sieben Hektar. Sie besitzen gewölbte Dächer und hoch oben Fenster, durch die das Sonnenlicht in wundervollen Strahlenbündeln hereinfällt.

Teil dieser Basare sind auch die mehr als zwanzig Karawansereien, jede ein architektonisches Juwel. Früher einmal dienten sie als Handelszentren und zur Aufnahme der Karawanen, die die Seidenstraße entlangzogen, heute gelten sie als das wichtigste Handels- und Handwerkszentrum in Syrien.

Wie gesagt, jedes Handwerk besitzt einen eigenen Basar, und alle Läden darin handeln mit derselben Ware. Es gibt einen Basar für Teppiche, einen anderen für Stoffe, genannt "Tuchmarkt", einen Basar für Gold und einen anderen für Gewürze und Seife, genannt "Drogistenmarkt". Dann gibt es einen Basar für Brautkleider, genannt "Frauenmarkt", und viele andere spezialisierte Märkte, die früher bei Nacht abgeschlossen wurden.

Die Karawansereien, "Chân" genannt, sind riesige Häuser mit vielen Geschäften darin. Jeder Chân war auf gewisse Karawanen spezialisiert. Dort wurden die Kamele und die Maultiere versorgt, und die Männer schliefen in Zimmern wie in einem Hotel. Tagsüber wurden die Waren aus Indien oder China öffentlich versteigert. Zu den berühmtesten Karawansereien zählt der "Chân al-Dschumruk", die "Zoll-Karawanserei", wo die Zollformalitäten für die Waren abgewickelt wurden. Dort hat man auch, lange vor der Einführung von Banken, Finanztransaktionen vorgenommen.

Außerdem gab es den "Chân al-Nahhassîn", die "Kupferschmiede-Karawanserei", den "Chân al-Wasîr", die "Wesirs-Karawanserei", und den "Chân al-Harîr", die "Seiden-Karawanserei", die der Fernsehserie ihren Namen gab, und viele andere. Die Vorbereitungsarbeiten, besonders die Suche nach geeigneten Drehorten in der Altstadt, waren ein unvergessliches Abenteuer, an dem ich mich mit Vergnügen beteiligte.

Auf einmal ist Ruhe eingekehrt

Das traditionelle Aleppiner Haus ist wie eine Kulisse aus 1001 Nacht. Es besteht aus einem Innenhof mit einem kleinen Bassin samt Springbrunnen in der Mitte und Zimmern, die diesen Hof umgeben und nur von ihm aus erreichbar sind. Der Hof dient auch als Bühne für abendliche Musik- und Erzählveranstaltungen.

Unser Haus im Altstadtviertel Akjûl war ein Musterbeispiel des aleppinischen Hauses. Es besaß Zimmer auf drei Etagen, die man über Treppen erreichte. Und weil das Haus über sehr viele Zimmer verfügte, hatte ich mein eigenes. Es lag im obersten Stock, was mir einen unschätzbaren Vorteil verschaffte: Ich konnte tun und lassen, was ich wollte, ohne von meinem jüngeren Bruder gestört zu werden.

Während wir uns noch unterhielten, stellte ich fest, dass die Ruhe zurückgekehrt und schon seit einiger Zeit von keiner Detonation mehr unterbrochen worden war. Schahla plauderte immer weiter. Sie hatte noch nicht bemerkt, dass sich die Kämpfer für diese Nacht genug verausgabt und deshalb beschlossen hatten zu pausieren. Ich regte an, sie sollten jetzt ihr Versteck verlassen und die Ruhe nutzen.

Sie könnte doch einmal, schlug ich vor, hinausgehen und den Zustand des Hauses und den angerichteten Schaden inspizieren. Sie tat es ohne Furcht. Ohne unser Telefongespräch zu unterbrechen, ging sie durch die Wohnung und sah sich, eine Kerze in der Hand, um. Da und dort lag etwas in Scherben, und die Fenster, die der Kampf am Tag zuvor verschont hatte, waren in dieser Nacht zu Bruch gegangen. Schahla holte die Kinder aus dem Klo, um sie ins Bett zu bringen. Da wünschte ich ihr eine friedliche, ruhige Nacht und legte auf.

Nihad Siris, geboren 1950 in Aleppo, zählt zu den bekanntesten Autoren seiner Heimatstadt. Anfang der Neunzigerjahre schrieb er die Drehbücher für die Fernsehserie "Der Seiden-Karawanserei", die in der Altstadt von Aleppo spielte. 2013 erhielt er den Coburger Rückert-Preis für seinen Roman "Ali Hassans Intrige". Siris lebt heute in Berlin. Aus dem Arabischen von Hartmut Fähndrich.

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