Krebsdiagnose:Wie blinde Frauen Erkrankungen der Brust ertasten

Krebsdiagnose: Pia Hemmerling, 28, hat die Gabe, Veränderungen im Brustgewebe zu erspüren, die selbst auf einer Ultraschallaufnahme nur schwer zu erkennen sind.

Pia Hemmerling, 28, hat die Gabe, Veränderungen im Brustgewebe zu erspüren, die selbst auf einer Ultraschallaufnahme nur schwer zu erkennen sind.

(Foto: Alina Emrich)

Ein Gynäkologe aus Duisburg hatte die Idee, denn beim Abtasten der Brust ist besonderes Fingerspitzengefühl gefragt. Jetzt arbeiten blinde Frauen in seiner Praxis.

Reportage von Thorsten Schmitz

Ein Mittwoch, sehr früh am Morgen. 4.47 Uhr zeigt die Uhr am Berliner U-Bahnhof Senefelderplatz, als ein Zug der Linie 2 einfährt. Im hintersten Wagen sitzt Pia Hemmerling, den Blindenstock in beiden Händen, Moritz' Schnauze auf ihren Turnschuhen. Der Golden Retriever begleitet Hemmerling seit elf Jahren. "Mein bester Freund", sagt sie. "Wenn der geht, ist Staatstrauer angesagt." Eine seiner Pfoten hat sie sich auf den Arm tätowieren lassen.

Hemmerling sitzt immer im hinteren Abteil. Sie mag keine Abwechslungen im Alltag, weil sie sich jeden Ort einprägen muss. Veränderungen erlaubt sie sich nur im Aussehen. Gerade steht sie auf grelle Farben. An diesem Morgen trägt sie rosa Turnschuhe, dazu eine rote Tasche, die Oberlippe ist gepierct. Sie hat ihre Haare auch schon mal knallrot gefärbt. Einem Passanten missfiel das. "Wie können Sie es wagen, einen auf blind zu machen?"

Fünfzig Operationen konnten Grauen und den Grünen Star nicht stoppen

Mit ihrem rechten Auge sieht Pia Hemmerling nichts. Das linke besitzt nur noch eine Sehkraft von unter 5 Prozent. Fünfzig Operationen an den Augen haben den Grauen und den Grünen Star nicht stoppen können. So musste sie lernen, andere Sinne zu perfektionieren. Notiert man ihre Antworten, spürt sie am Ton, dass man nur halb beim Gespräch ist: "Die Stimme bekommt dann eine andere Färbung."

Am Alexanderplatz meidet sie das unterirdische Labyrinth zur S-Bahn und nimmt einen oberirdischen Umweg. Den hat sie abgespeichert. Pia Hemmerling ist auf dem Weg zur Arbeit, es ist ein sehr langer Weg. Erst in drei Stunden wird sie die Hamburger Frauenarztpraxis erreicht haben. Dort tastet Hemmerling Frauenbrüste ab. Sie ist Medizinische Tastuntersucherin (MTU) und fühlt, ob sich in Frauenbrüsten Knoten gebildet haben. Sie ist eine von bundesweit rund hundert blinden Frauen, denen es gelungen ist, ihr Handicap in ein Talent zu verwandeln. "Diesen Job machen nur Blinde", sagt sie und lässt sich in einen Sitz fallen im ersten ICE des Tages nach Hamburg. "Da haben wir den Sehenden endlich mal was voraus." Sie knetet ihre klammen Finger, nippt am Kamillentee. Ihre Fingernägel sind auffallend kurz geschnitten. "Sobald das Weiße heranwächst", sagt sie, "muss es weg, sonst tut das den Frauen weh."

Die Idee, blinden Frauen mehr zuzutrauen, als Weidenkörbe zu flechten, hatte Frank Hoffmann. Sie kam ihm morgens, vor acht Jahren, im Bad. Der Gynäkologe sitzt in seiner Praxis in Duisburg und erinnert sich an jenen Tag vor acht Jahren: "Ich stand unter der Dusche, als mir in den Kopf schoss: Blinde, das ist die Lösung: Blinde!" Die seien doch für ihr Fingerspitzengefühl bekannt und würden von der Gesellschaft ausrangiert. Das Problem, für das er damals eine Lösung suchte: "Dass ich als Frauenarzt im Prinzip nur drei, vier Minuten Zeit habe zum Abtasten von Brüsten. Mehr gibt die Vergütungsordnung nicht her." In drei Minuten lasse sich aber keine verlässliche Aussage treffen über Knoten und Geschwüre.

"Discovering Hands"

Blinde Frauen also. Hoffmann kannte keine einzige, aber der Ehemann einer seiner Mitarbeiterinnen. Er vermittelte Hoffmann sechs blinde Frauen, alle sechs arbeitslos und deprimiert darüber. Hoffmann lud die Frauen zum Gespräch ein, sie wurden sofort neugierig. Nur deren Integrationshelferin nicht: "Ist das nicht eine Nummer zu groß für Blinde?" War es nicht. Hoffmann gründete "Discovering Hands", ein Unternehmen, das blinde Frauen zu Tastuntersucherinnen ausbildet.

Berufsförderungswerk, Gesundheitsministerium und Ärztekammer von Nordrhein-Westfalen waren von Hoffmanns Plan begeistert, eine Prüfungsordnung wurde entwickelt. Jetzt lernen blinde Frauen, was die Lymphknoten mit der Brust zu tun haben, was szirrhöse Karzinome sind, Fibrome, Zysten. Sie lernen auch, professionell zu reagieren. "Am Anfang", sagt Sabrina Zollo, die im bayerischen Fürth und Gunzenhausen Brüste abtastet, "hat man meinem Gesichtsausdruck noch ablesen können, ui, da könnte was sein."

Es muss kein Todesurteil sein, wenn sie etwas finden, auch das lernen sie. "Bei Brustkrebs ist entscheidend, wann man ihn entdeckt", sagt Hoffmann. "Die Heilungschancen liegen bei über 90 Prozent, wenn der Krebs noch nicht gestreut hat." Faszinierend sei für ihn auch die Genauigkeit der blinden Frauen: "Es passiert oft, dass eine MTU einen Befund ertastet, und mir fällt an der Stelle erst einmal nichts auf. Und regelmäßig zeigt der Ultraschall: Da ist tatsächlich was." Ärzte wie er fänden in einer Routineuntersuchung nur Tumore ab einem Durchmesser von 1,5 bis zwei Zentimetern. Blinde Untersucherinnen dagegen ertasteten bereits Befunde ab einer Größe von sechs bis acht Millimetern.

Das halb volle Glas sehen

Gunzenhausen, später Vormittag in der Frauenarztpraxis von Thomas Sattler. Sabrina Zollo sitzt in ihrem Behandlungszimmer und tippt Daten mit einer Braille-Tastatur in den Computer ein. "Wann hatten Sie Ihre letzte Periode? Sind Sie erkältet?" Eine 44 Jahre alte Floristin liegt neben ihr auf dem Behandlungstisch. In Zeitlupentempo beginnt Zollo, die rechte Brust der Frau abzutasten. Nur das Summen einer Lampe ist zu hören. "Ich bin jetzt einfach mal still", sagt Zollo, "wenn Sie nichts fragen." Zwei Minuten vergehen, bis die Patientin die Stille bricht. "Wie sind Sie eigentlich blind geworden?" - "Ach", sagt Zollo, "ein Gendefekt." Stille. "Aber ich bin eine von denen, die das halb volle Glas sehen."

70000 Mal im Jahr

diagnostizieren Ärzte in Deutschland ein Mammakarzinom. Brustkrebs ist die häufigste Krebserkrankung bei Frauen, mehr als 17 000 Frauen sterben jährlich daran. Rechtzeitig erkannt und behandelt, sind die meisten Brustkrebserkrankungen aber heilbar. Eine Tastuntersuchung dauert in der Regel dreißig, manchmal fünfzig Minuten. Vor jeder Sitzung kleben die Tastuntersucherinnen auf Brustbein, Brust und Achselseiten patentierte Orientierungsstreifen, auf denen sich auch Braille-Punkte befinden. Die Streifen teilen die Brust in Zonen ein. Mit ihrer Hilfe können die blinden Tasterinnen Befunde in ein Diagramm übertragen.

So empfindet das auch ihre Kollegin Pia Hemmerling. "Klar würde ich lieber sehen können, aber ich habe mich mit meiner Blindheit abgefunden." Sie arbeitet jetzt seit sechs Jahren in einer Frauenarztpraxis in Hamburg, im Discovering-Hands-Zentrum in Berlin und in einer Frauenarztpraxis in Rostock. Die ganze Woche sind sie und ihr Hund unterwegs, Freunde sieht sie selten, weil sie abends todmüde ins Bett fällt, Geschwister hat Hemmerling keine. "Meine Mutter hat gesagt, ein Kind, das blind ist, reicht mir." Der Satz tut weh.

Sie lässt sich keinen Schmerz anmerken. Ihr Beruf ist jetzt auch ein Tor zur Außenwelt: "Als Blinde kann ich die Welt ja nicht erkunden", sagt sie. "Jetzt kommt die Welt zu mir." Gelernt hat sie Reiseverkehrsfrau, aber im Büro zu sitzen, hat sie verrückt gemacht. An einem Abend lief im Fernsehen ein Bericht über Discovering Hands. "Ich dachte sofort: Das ist was für mich." Ihr Gewinn ist ein großes Gefühl von Genugtuung: "Ich bin etwas wert mit dem, was ich jetzt kann."

Was sie kann, aber nicht darf: Diagnosen stellen

Was sie kann, aber nicht darf: Diagnosen stellen. Medizinische Tastuntersucherin ist eine Qualifikation, kein anerkannter Beruf. Diagnosen stellen dürfen nur Ärzte. Hemmerling korrigiert auch, wenn man sagt, sie ertaste Krebs: "Wir suchen keinen Krebs", sagt sie, "sondern wir suchen Gewebeveränderungen." Das Wort Krebs "löst bei jedem Panik aus", sagt sie, "auch bei mir." Manchmal kämen Frauen mit Tränen in den Augen zu ihr, so sehr fürchteten sie sich vor der Untersuchung. Und sie selbst? "Angst habe ich eher, dass ich meinen Rest an Sehkraft auch noch verliere. Wenn ich an Brustkrebs erkranken würde, wäre das eine Ironie."

Die meisten Frauen, die sie untersucht, wollen wissen, was sie noch sieht. "Ich kann das gar nicht beschreiben", sagt Pia Hemmerling. Sie führt Moritz Gassi, sie hat plötzlich Zeit an diesem Mittwoch in Hamburg, eine Patientin ist nicht erschienen. Menschen, an denen sie vorbeiläuft, starren ihr hinterher. Vor ein paar Wochen, auf dem Bahnsteig im Berliner Hauptbahnhof, stand eine Frau ganz nah bei ihr. Hemmerling spürte den Atem der Frau. "Gucken kostet einen Euro", blaffte sie. Die Frau gab ihr tatsächlich einen Euro. Was Hemmerling noch sieht, sind Hell und Dunkel und dass bei Bäckern gelbes, in Metzgereien eher rosa Licht strahlt. Und wenn sie wissen will, wie das Wetter wird, tippt sie auf das Icon auf ihrem Handy, "nicht, weil ich das Wort Wetter lesen kann, sondern weil ich weiß, wo es liegt".

Eine elegant gekleidete Pensionärin sitzt auf dem Behandlungsbett. Hemmerling beginnt am Hals, fragt: "Waren Sie erkältet? Ihre Lymphknoten sind geschwollen." Vierzig Minuten lang untersucht Hemmerling die Brüste, fragt, ob es in der Familie Brustkrebsfälle gibt. Ja, sagt die Patientin, "meine Cousine". Da brauche sie keine Angst haben, sagt Hemmerling, "das ist zu weit weg". Ob sie sich selbst abtaste? Nein, sagt die Pensionärin, "ich mache da alles falsch". Falsch, sagt Hemmerling, gibt's nicht. "Falsch ist, sich nie abzutasten."

Es ist fast 11 Uhr, Pia Hemmerling ist seit sieben Stunden auf den Beinen, Moritz schlummert im Nebenzimmer. Eine fröhliche Versicherungsangestellte liegt auf dem Behandlungstisch. "Mein Mann hat den Termin bei Ihnen gemacht", sagt die Frau. "Er kümmert sich um meine Gesundheit." Sie sei begeistert gewesen, als ihr Mann gesagt habe, dass Hemmerling blind ist. "Ich finde es klasse, wie Sie aus ihrem Handicap einen Nutzen ziehen."

Einen Nutzen ziehen auch manche Patientinnen. Vor einem Jahr tastete Hemmerling die Brust einer älteren Frau ab und erspürte einen "dicken, festen Knoten. Das war ein Volltreffer." Sie rief den Arzt, der untersuchte per Ultraschall, die Frau musste sofort ins Krankenhaus. Sie habe den Knoten schon länger, hatte die Patientin zugegeben. "Ich konnte ja nicht sagen, sind Sie blöd, warum sind Sie nicht eher gekommen?" Vor Kurzem kam die Frau zur Nachuntersuchung. "Sie haben mir das Leben gerettet", bedankte sie sich bei Hemmerling. Es sind solche Sätze, von denen Hemmerling zehrt, wenn sie abends im vollen ICE von Hamburg nach Berlin keinen Sitzplatz mehr findet - und niemand aufsteht.

Irgendwann "habe ich Laternenmasten geknutscht"

Gunzenhausen, eine Autostunde von Nürnberg entfernt. Sabrina Zollo arbeitet hier zweimal in der Woche in der Frauenarztpraxis von Thomas Sattler. Die Praxis gibt es seit 26 Jahren. Früher, hat der Arzt beobachtet, seien die Gaststätten in Gunzenhausen voll gewesen. "Seitdem jetzt aber auch die Alten vor dem Computer hängen, sind die Kneipen leerer." Sabrina Zollo nimmt sich 40 Minuten Zeit für jede Patientin. "Die habe ich ja gar nicht", sagt Sattler. Immer mehr ältere Patientinnen buchten jetzt auch einen Termin bei Sabrina Zollo. Auch, "weil die vor dem Computer vereinsamen. Die möchten, dass ihnen jemand zuhört." Manche kämen auch, weil sie Mammografie hassten. "Ich habe Patientinnen", sagt Sattler, "denen 14 Tage lang die Brust schmerzt oder die blaue Flecken haben nach einer Mammografie."

Schon im Kindergarten trug Sabrina Zollo eine Brille, mit zwölf brauchte sie im Unterricht eine Lupe, dann verwechselte sie Farben, und irgendwann "habe ich Laternenmasten geknutscht". Sie sitzt in einer Gaststätte am Marktplatz, vor ihr ein Hawaiitoast. Feierabendhunger. Der Arzt diagnostizierte Retinitis pigmentosa, eine Netzhautdegeneration, die oft zu Erblindung führt. "Der erste Schub war krass", sagt Zollo. "Da habe ich mich beschissen gefühlt." Geredet hat sie damals mit niemandem, geweint sehr oft. Und heute? "Habe ich mich damit arrangiert. Aber akzeptieren tu ich es nicht."

Als krass empfand sie auch, welche Zukunft ihr als Erblindende bevorstand. Musikerin wäre sie gerne geworden, doch als sie mit ihren Eltern zum Integrationsamt in Stuttgart ging, "riet mir der Typ dort: Such dir einen Platz in einer Blindenwerkstatt." Sabrina Zollo zeigte dem Mann den Mittelfinger. Sie hat dann eine Ausbildung als Bürokauffrau begonnen, "aber ich hab's gehasst." Sie wollte aufhören, "aber ich wollte auch nicht von Hartz IV leben". Eines Tages erfuhr sie von Discovering Hands, erkundigte sich, führte Gespräche, bewarb sich um ein Stipendium, um die 45 000 Euro teure Qualifizierung zu finanzieren. Ihre Eltern waren skeptisch, die Tochter aber verblüffte alle. Ihren Abschluss bestand Zollo mit einem Notendurchschnitt von 1,0.

Am Nachmittag kehrt sie nach Nürnberg zurück, nach einer Odyssee aus Fußweg, Bus, Regionalbahn, U-Bahn. Sie holt die Post aus dem Briefkasten, mit einem Lesegerät erfährt sie, dass der Frauenarzt in Nürnberg, bei dem sie sich zusätzlich beworben hat, sie nicht braucht. Sie lacht. Sagt: "Sein Verlust." Dann macht sich wieder auf den Weg, ein Ladegerät kaufen fürs Handy. Mit dem Blindenstock klappert sie den Boden und Bordsteine ab, und als man sie fragt, wovon sie träumt, sagt sie nicht: "Dass ich wieder sehen kann." Sondern: "Ich würde mir gerne in den USA ein Stück Land kaufen, eine Ranch eröffnen und dort mit behinderten Kindern arbeiten."

800 Kilometer zu Demirs Sprechstunde und zurück

Frank Hoffmann möchte jetzt Tastuntersucherinnen zusätzlich darin ausbilden, Patientinnen zu zeigen, wie sie sich selbst abtasten können. Zehn Euro soll das Training die Patientinnen kosten, zusätzlich zu den 46,50 Euro, die sie für die Brustgewebeprüfung zahlen, falls die Krankenkasse das nicht übernimmt. Übrigens, sagt er, habe er einen Begriff aus seinem Wortschatz gestrichen: Brustkrebsvorsorge. "Ich spreche lieber von Brustgesundheitsplanung."

Es ist Mittag, und Hoffmanns Mitarbeiterin Filiz Demir sitzt beim Türken um die Ecke. Einen Buffetteller hat sie sich kommen lassen. Sie fragt, wo was liegt. "Auf drei Uhr" der Hirtenkäse, "auf sechs Uhr" der Tomatensalat, "auf neun Uhr" die Hackfleischzigarren. Sie sieht so gut wie nichts, außer einem hellen Punkt. Ihre Stimme hat etwas sehr Beruhigendes, und sie lächelt viel. "Ich habe Arbeit", sagt sie, "eine Wohnung, Familie, und ich bin gesund." Sie sagt wirklich: gesund. Seit vergangenem Juli arbeitet Demir in Hoffmanns Praxis. Ihre Feinfühligkeit hat sich herumgesprochen. Eine Patientin, die Brustkrebs überlebt hat, fährt einmal im Jahr von Karlsruhe 800 Kilometer nach Duisburg zu Demirs Sprechstunde und wieder zurück.

Spät ist sie erblindet, mit 35 Jahren, ihr Rheuma hat auch die Sehnerven zerstört. Die Zerstörung vollzog sich schleichend. Mit zwölf Jahren konnte sie die eigene Schrift nicht mehr entziffern, vier Jahre später war ein Entzündungsschub so heftig, dass sie fast die gesamte Sehkraft verlor und nach Marburg zog, wo es eine Sehbehindertenschule gibt. Für ihre Eltern war die erblindende Tochter "ein Schock", sagt Filiz Demir. Sehr langsam balanciert sie mit der Gabel eine Tomatenscheibe zum Mund. "Meine Mutter", sagt sie, "hat sehr viel geweint, mein Vater hat mich auffällig oft in den Arm genommen."

In Marburg hat Demir gelernt, Brailleschrift zu lesen, wie man ohne Augenlicht bügelt, putzt und mit dem Stock rechtzeitig Laternenpfosten entdeckt. Sie hat sich als Datenverarbeitungskauffrau ausbilden lassen, Rechnungen eingegeben, mit einem Lesegerät Kontoauszüge geprüft, aber jetzt, als Tastuntersucherin, sagt sie, "bin ich erst richtig zufrieden". Bei der Jobsuche "wurde mir immer vermittelt, ich bin schlechter als alle anderen. Aber bei diesem Job hier nicht, da bin ich jetzt mal ein bisschen besser."

Die Blindheit relativiert sich

Im Sommer fährt sie oft nach Istanbul, mit ihrer Schwester, zum Shoppen und Verwandte besuchen. "Meine Schwester", erzählt Demir, "liebt es, in Istanbul einzukaufen. Ich bin dort ihre Beraterin." Sie tastet dann die Stoffe der Kleider ab, die ihre Schwester anprobiert, und die Schwester sagt, welche Farbe das Kleid hat. An Farben kann sich Demir noch gut erinnern.

Sie hat noch ein paar Minuten Zeit, bevor die nächste Patientin kommt, und setzt sich vor Hoffmanns Praxis in die Wintersonne. Es passiert ihr oft, sagt sie, dass Menschen sie bemitleideten. Empfindet sie Mitleid für sich selbst? Nein, sagt sie sehr bestimmt. Die Blindheit, sagt sie, "relativiert sich, weil du irgendwann deinen eigenen Weg findest". Die Angst zu erblinden, "habe ich ausgehalten". Jetzt hat sie keine Angst mehr.

Gleich muss sie wieder in die Praxis, vier Frauen wird sie heute noch untersuchen, acht Brüste abtasten, Lymphknoten befühlen, über das Wetter reden und die vielen Flüchtlinge. Dann steht sie auf, mit einem warmen Händedruck verabschiedet sie sich. "Wenn du mal gesehen hast, wirst du es immer irgendwie vermissen", sagt sie. "Aber die Behinderung hat mir auch zu einem Job verholfen, bei dem ich Menschen helfen kann. Was will ich mehr?"

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