Krankenhausclown:"Warum meine Tochter, warum wir?"

Krankenhausclown: Ich wurde Clown um zu leben: Julia Hartmann (rechts) mit ihrer Tochter Nadine alias Zaubermaus Clown Biene

Ich wurde Clown um zu leben: Julia Hartmann (rechts) mit ihrer Tochter Nadine alias Zaubermaus Clown Biene

(Foto: DeHammer; Gütersloher Verlagshaus)

Mit vier bekam ihre Tochter Krebs. In der tiefsten Krise erinnerte sich die Mutter daran, was einmal ihr Traum war - und änderte ihr Leben. Eine Geschichte von Mut und Hoffnung.

Protokoll: Lars Langenau

"Als ich sechs Jahre alt war, trat zum ersten Mal ein Clown in mein Leben. Sofort war ich fasziniert, denn hinter seiner Maske war er ein lustiges und zugleich trauriges Geschöpf. Machte er etwas kaputt, brandete im Zirkus donnernder Applaus auf. Wenn ich als Kind etwas kaputt machte, gab es keinen Applaus.

Clowns dürfen scheitern, deshalb wollte ich einer werden.

Doch wie das so ist im Leben: Manchmal verliert man seine Fähigkeit zu träumen und die Dinge zu tun, die man eigentlich schon immer machen wollte. So wurde ich zur Zollbeamtin ausgebildet, ein ganz normaler, sicherer Beruf, den ich jedoch eher widerwillig und auf Druck meines Umfeldes wählte.

Den Clown verlor ich aus den Augen, er meldete sich erst wieder in einer schlimmen Zeit.

Das Martyrium meiner Tochter verschlug uns die Sprache

Als meine Tochter Nicole vier Jahre alt war, wurde bei ihr ein Tumor im Oberschenkelknochen festgestellt. Sie hatte ein Osteosarkom, eine der bösartigsten Formen von Knochenkrebs. Mein Mann und ich reagierten auf die Diagnose mit Angst, Schock, Nichtwahrhabenwollen. Es passte einfach nicht zusammen: ein Mädchen voller Lebensfreude und diese schreckliche Krankheit. Es folgten Operationen und Chemotherapie. Sie magerte zum Skelett ab, ihr Schädel war kahl wie der eines alten Mannes und doch biss dieses kleine Mädchen tapfer seine Milchzähne zusammen.

Nicoles Martyrium verschlug uns die Sprache. Nichts half langfristig. Schließlich sahen die Ärzte keinen anderen Weg als die Amputation des Hüftgelenks und des Beins. Ich erspare Ihnen die Einzelheiten, aber in dieser Zeit wurde mein Haar grau.

Die Chemotherapie hatte den Nebeneffekt, dass wir Nicoles geschwächtes Immunsystem schützen mussten. Sie hätte an einem eingeschleppten Infekt sterben können, doch mein Umfeld verstand nicht, dass ich eine Zeitlang niemanden zu meiner Tochter lassen konnte.

In den ersten drei Monaten erfuhren wir noch Unterstützung, dann zogen sich Freunde, Bekannte und Nachbarn zurück. Aus Unsicherheit, aus Berührungsangst vermied man ein Zusammentreffen mit uns. Ich hätte mir so sehr mehr Verständnis gewünscht, dass mal jemand auf mich zukommt und nicht nur lapidar fragt, wie es geht. Dass jemand mal wirkliches Interesse zeigt. Oder jemand fragt, ob er uns entlasten kann. Allzu oft ließ ich meinen Zorn über die Ungerechtigkeit des Schicksals und die Verständnislosigkeit meiner Umwelt an den Wenigen aus, die noch zu uns standen.

Was willst du noch in deinem Leben machen?

Natürlich haderte ich mit dem Schicksal: Warum gerade meine Tochter, warum wir? Warum können alle den Sommer genießen außer uns? Wehmut begleitete mein Leben, etwa wenn ich andere Familien sah. Ich hatte Sehnsucht nach einem ganz normalen Familienleben mit Zahnspangen und Schulproblemen. Aber irgendwann gab ich es auf, nach einem Sinn zu suchen.

Manchmal verzog ich mich in ein Schneckenhaus. Nur meiner jüngeren Tochter, meinem Mann und einer Handvoll Freunden gelang es, mich da herauszuholen und mir die Angst zu nehmen. Ich musste lernen, auf die Menschen zuzugehen, den ersten Schritt zu machen. Und ich musste lernen, Gefühle wie Verzweiflung, Ohnmacht, Hass in etwas Positives umzuwandeln: in Liebe, Zuneigung, Mitgefühl, Freundlichkeit.

Später dann, als der Krebs zunächst überwunden war, kamen andere Probleme. Mit meiner Tochter in ein öffentliches Schwimmbad zu gehen, war wegen der Prothese lange undenkbar. Ich fürchtete mich vor den Blicken der anderen. Ich hörte, wie Leute hinter meinem Rücken flüsterten. In der Straßenbahn herrschte ein älterer Herr meine Tochter an: "Steh mal auf, du junges Ding!" Sie darauf: "Ich kann auch nicht lange stehen." Das tat sehr weh, aber sollte ich deshalb einen Streit oder eine Diskussion anfangen? Jeden Tag erlebten wir so eine Situation wie diese, jeden Tag ein kleiner Pikser.

Dem Leid die Stirn bieten

Am Ende sah ich keinen Ausweg mehr, dem unendlichen Leid meiner Tochter zu entfliehen. Ich musste ihm die Stirn zu bieten. Am tiefsten Punkt meiner Verzweiflung, wenn ich am Krankenbett meiner Tochter saß oder nachts nicht schlafen konnte, schaute wieder dieser Clown um die Ecke. Er war noch da. Ich hatte ihn nur vergessen. Er sprach nicht mit mir, aber sein Blick schien mit einem leichten Zwinkern sagen zu wollen: "Halte mich diesmal fest. Du und ich, wir haben lange genug gewartet."

Ich weiß das Datum und die Situation noch ganz genau. Die Sonne schien durchs Fenster, und meine Freundin stellte mir die entscheidenden Frage: "Was willst du noch in deinem Leben machen?" Da sagte ich: "Ich werde Clown und bringe in die Krankenhäuser ein bisschen Leben rein." Und genau das tat ich.

Ich machte eine Ausbildung zum Clown, absolvierte Seminare in der Zauberkunst, nahm an Bauchrednerseminaren teil und ließ mich psychologisch weiterbilden. Gut vorbereitet begann ich, in Krankenhäusern aufzutreten. Einfach war das nicht, denn Krankenhausclowns waren damals noch nicht so bekannt und zunächst stieß ich auf Misstrauen. Von den Krankenschwestern und Ärzten wurde ich zur Stille ermahnt. Um die Skepsis aufzulösen, brauchte es Geduld.

"Leben ist immer ein Risiko"

Einmal besuchte ich ein junges Mädchen auf der Intensivstation. Sie war allein und seit Wochen apathisch. Dann kam ich, redete mit ihr und ihre Augen verfolgten mich. Das Mädchen wollte sprechen, fand aber nicht die Kraft dazu. Doch in ihren Augen blitzte etwas auf, als sie mein geschminktes Gesicht und das Kostüm sah. Ich machte ihr eine bunte Ballonblume und befestigte sie am Bett. Plötzlich begannen die Apparate, die die kleine Patientin überwachten, Alarm zu schlagen. Es war, als sei ihr Leben zurückgekehrt. An diesem Tag überwältigte mich die Freude darüber, dass sie mit mir sprechen wollte - und gleichzeitig meine Trauer, dass ich ihr nicht mehr geben konnte als die Blume.

Drei Jahre später kam mir dieses Mädchen auf dem Flur desselben Krankenhauses entgegengelaufen, umarmte mich und hielt mich fest, als wollte es mich nie wieder loslassen. Ihre Mutter erzählte mir, dass es mit ihrer Tochter seit dem Tag unserer Begegnung aufwärts gegangen sei. Sie habe gekämpft wie eine Löwin und sei drei Wochen später auf eine normale Station verlegt worden. Zwar wird sie für immer herzkrank bleiben, aber mit ihrer Krankheit ein glückliches Leben führen können.

Immer wieder mache ich die Erfahrung, dass sich die Leute auch noch Jahrzehnte später an uns erinnern. Es sind diese Momente, die alle Zweifel, alle Unsicherheit, jeden Kampf lohnen. Es gibt nichts, das diese Augenblicke aufwiegt und nichts, das sie mir wieder nehmen kann.

Ich spiele keinen Clown, ich bin dieser Clown. Natürlich kann ich die Patienten nicht heilen. Doch darum geht es auch nicht. Mir geht es darum, ein wenig Freude in den Klinikalltag zu bringen. Jeder Mensch sehnt sich nach Lachen und Lebensfreude. Oftmals mischen sich unter die Lachtränen auch Trauertränen und vieles mehr. Das alles gehört zum Leben.

Mit 25 Jahren verlor meine Tochter den Kampf gegen den Krebs

Im Dezember 2012 verlor meine Tochter Nicole ihren zermürbenden, jahrzehntelangen Kampf gegen den Krebs. Sie wurde 25 Jahre alt. Ich habe drei Jahre gebraucht, um zu begreifen, dass sie tot ist.

Ich weiß, dass das Leben endlich ist, die Momente vorbeigehen. Jetzt geht es um die Lebenden. Einen Menschen loszulassen, bedeutet nicht zwangsläufig, ihn zu verlieren. Ich hätte es gerne anders gehabt, aber ohne die Krankheit meiner Tochter hätte ich den Schritt zum Krankenhausclown vielleicht nicht gewagt. Allerdings hätte ich gerne auf dieses harte Schicksal verzichtet.

Meine Tochter Nadine und mein Mann arbeiten heute als meine Kollegen, auch sie ließen sich zu Clowns ausbilden. Es war ihnen selbst ein Anliegen, ich habe sie nie darum gebeten - genieße es aber, dass sie meine Leidenschaft teilen.

"Leben ist immer ein Risiko" - dieser Satz ist zu meinem Lebensmotto geworden. Egal, welche Entscheidungen ich in meinem Leben auch treffe, ein gewisses Restrisiko wird bleiben. Manchmal kann es sogar besser sein, eine falsche Entscheidung zu treffen als gar keine. Absolute Sicherheit wird es nie geben. Dies anzunehmen und gleichzeitig Verantwortung für sein eigenes Leben sowie für das Leben seiner nächsten, liebsten Mitmenschen zu übernehmen, sehe ich als Aufgabe eines jeden Menschen."

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Julia Hartmann wohnt mit ihrer Familie im Landkreis Karlsruhe. Die 53-Jährige ist seit 15 Jahren freiberuflicher Clown in Kliniken in Mannheim und Heidelberg, Seniorenheimen und auf Veranstaltungen jeglicher Art. Zudem ist sie Dozentin für "Humor in der Pflege" in psychiatrischen Zentren, an der Universität Heidelberg und auf Tagungen und Kongressen. Vergangenes Jahr hat sie im Gütersloher Verlagshaus ein Buch über ihre Geschichte veröffentlicht: "Ich wurde Clown um zu leben. Von der heilenden Kraft des Humors."

Überleben

Wir veröffentlichen an dieser Stelle in loser Folge Gesprächsprotokolle unter dem Label "ÜberLeben". Sie handeln von Brüchen, Schicksalen, tiefen Erlebnissen. Menschen erzählen von einschneidenden Erlebnissen. Wieso brechen die einen zusammen, während andere mit schweren Problemen klarkommen? Wie geht Überlebenskunst? Alle Geschichten finden Sie hier. Wenn Sie selbst Ihre erzählen wollen, dann schreiben Sie eine E-Mail an: ueberleben@sz.de

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