Kolumne "Familie und andere Turbulenzen":Lass sie schreien

Familien-Kolumne

Warum Eltern so entspannt bleiben? Weil sie am Schreien hören, wenn aus dem Spiel Ernst wird.

(Foto: Stephanie Wunderlich)

Für Menschen ohne Nachwuchs kreischen alle Kinder gleich, während Eltern schon beim ersten Heuler horchen: Ist es nur der kleine Frust zwischendurch oder ein echter Notfall?

Von Katja Schnitzler

Die Mutter hatte sich auf einen entspannten Nachmittag mit ihrer Freundin gefreut, die selten genug den weiten Weg in die kinderreiche Vorstadtreihenhaussiedlung auf sich nahm ("Da tut sich doch nichts, viel zu ruhig, dein Leben dort draußen"). Doch kaum hatte die Freundin auf der Terrasse Platz genommen, brach Unruhe aus.

Dabei hatte die Mutter dieses Mal vorgesorgt: mit einer Picknickdecke im hinteren Teil des Gartens, auf der Essbares, Trinkbares und Ausmalbares bereitlagen. Daneben stand eine Babybadewanne mit Wasser, zum Planschen und Befüllen der heißgeliebten Kindergießkannen. Damit entfielen die üblichen Störungen im 20-Sekunden-Takt, mit denen die Dreijährige und die Fünfjährige sonst die Gespräche der Erwachsenen zerstückelten.

Doch nun war die Freundin nicht ganz bei der Sache. Ständig sprang sie auf. Selbst wenn sie sitzen blieb, hörte sie offensichtlich nicht zu.

Die Freundin rutschte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her. Nervös blickte sie zur Hausecke, hinter der die Kinder mit ihren gefüllten Gießkannen verschwunden waren. Aus dieser Richtung ertönten Schreie. Die Freundin blickte zur Ecke, zur Mutter, zur Ecke.

NEIHIIIIN, NIIIIHICHT!

"Willst du nicht mal nachschauen, was da los ist?", fragte die Freundin. "Muss nicht sein", sagte die Mutter. Dem Kreischen nach zu urteilen goss die Ältere wieder genau die Blumen, die auch das Ziel der Jüngeren gewesen waren. Die Ältere würde gleich, genervt vom Protestgeschrei, das Weite suchen.

SCHNAUB!

Na, wer sagt's denn.

JAAAARGH!

Die Freundin zuckte zusammen.

UUUUUAAAAHH!

Die Mutter drehte sich nicht einmal um: "Holt ein Tuch und trocknet damit das Malbuch ab, dann legt ihr es in die Sonne. Und hör auf, aus Rache das Malbuch der Kleinen vollzukritzeln, sie hat den Wasserbecher doch nicht mit Absicht über dein Bild geschüttet." Die Mutter nahm einen weiteren Schluck Kaffee, die Freundin umkrampfte ihre Tasse.

WUUUAAAH-HAAAA!

Die Freundin schüttete vor Schreck die Hälfte ihres Kaffees auf den Tisch, die Mutter seufzte: "Dann teilt euch den letzten Keks doch gerecht. Und geht bitte auf den Spielplatz nebenan, damit wir uns hier unterhalten können."

Fünf Minuten herrschte Ruhe. So hatte sich die Freundin die Vorstadt vorgestellt. Sie ließ sich im Gartenstuhl zurückfallen und entspannte ein wenig. Bis zur sechsten Minute.

UHUUUA-JAUWIIIEEE!

"Und was ist mit dem los?", fragte die Freundin matt. "Das ist nichts Schlimmes", meinte die Mutter gelassen, "der ist um die Zeit schnell frustriert, weil er schon müde ist. Sogar sein Weinen hört sich erschöpft an." "Ach", sagte die Freundin. Beide betrachteten den Jungen, der schluchzend den Zaun entlanglief. "Heute ist er schon sehr müde", sagte die Mutter. Die Freundin hob nur noch fragend die Augenbrauen. "Hand am Ohr", erklärte die Mutter lapidar und zwinkerte ihr zu: "Erkenne die Zeichen!"

UHUUUA-JAUAAAAAA!

"Ah, da ist wohl noch jemand müde", deutete die Freundin stolz die Zeichen, langsam hörte sie sich ein. Die Mutter antwortete nicht. Sie war bereits durch den Garten gerannt, übers Tor geflankt und zum Spielplatz gestürzt. Nach zwei Minuten kam die Mutter zurückgeschlendert, dieses Mal öffnete sie das Gartentor. "Ich habe den Kindern schon so oft gesagt, sie sollen nicht oben auf der Wippe herumklettern. Immer wieder klemmt sich da eines das Bein ein." "Und das hörst du am Schreien?", fragte die Freundin und massierte sich möglichst unauffällig die Schläfe.

"Klar", sagte die Mutter. "Je schriller es hinten hinaus wird, desto dringender ist es. Außer bei dem Kind von gegenüber, das endet immer schrill. Da ist es wichtig, ob es auch schrill beginnt. Und wenn es in der Mitte ein wenig nachlässt, muss man auch nicht gleich loshetzen. Dann streitet es sich nur, aber es schmerzt nichts." "Oje", sagte die Freundin und blickte über den Zaun. Hoffentlich war dieses Kind von gegenüber heute nicht da.

KREIHIISCH-JARRGH-QUIEETSCH! JAAAAUUUUUUL!

"Und was war das?", rief die Freundin und sprang auf, bereit übers Gartentor zu flanken. Die Mutter hielt sie zurück. "Das Nachbarskind ist der Katze auf den Schwanz gestiegen. Die hat sich in den Waden festgekrallt. Aber die Nachbarin eilt schon zur Rettung." "Und das", sagte die Freundin fassungslos und ließ sich erschöpft zurück in den Stuhl fallen, "das hast du alles am Kreischen gehört?" "Nein", sagte die Mutter, "das hat sich in der Fensterscheibe gespiegelt."

Die Freundin sprang wieder auf, sie müsse jetzt gehen, ein plötzlicher Kopfschmerz! Und ob sie sich das nächste Mal bitte wieder in der Innenstadt treffen könnten? Da sei es so schön ruhig.

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