Kluge Mode:Mein Kleid denkt mit

Vorsprung durch Technik: Mode ist nicht nur schön, sondern auch intelligent. Ein Forschungsbericht aus dem Fashion-Laboratorium.

Alex Bohn

Wer etwas schneller ist als die Jahreszeiten und in diesen Tagen seine Garderobe für den Sommer organisiert, dem konnte nicht verborgen bleiben, dass der gemeinsame Nenner vieler Prêt-à-porter-Schauen 2007 ungewöhnlich ist: Vorsprung durch Technik.

Kluge Mode: Wenn man sich an diesem schicken Ensemble von Hussein Chalayan beim Tragen sattgesehen hat, hilft ein kurzer Anruf bei der Technik, und das Kleid verschwindet flugs im aufgespannten Hut.

Wenn man sich an diesem schicken Ensemble von Hussein Chalayan beim Tragen sattgesehen hat, hilft ein kurzer Anruf bei der Technik, und das Kleid verschwindet flugs im aufgespannten Hut.

(Foto: Foto: AP)

Auf den ersten Blick scheinen die beiden unvereinbar - die von der Ratio geprägte Technik und die vordringlich auf Unterstützung oder Ausdruck von Empfindungen bezogene Mode. Doch ohne technischen Fortschritt wäre Mode heute deutlich eingeschränkter in ihren textilen Möglichkeiten, beispielsweise so kratzig und unflexibel wie vor der Erfindung von Lycra, Spandex und Co.

Der zypriotische Designer Hussein Chalayan formulierte es gegenüber der Herald Tribune so entschieden wie kaum ein anderer: "Die einzig wirklichen Neuerungen in der Mode kommen via Technologie."

In seiner aktuellen Prêt-à-porter-Schau für Damen setzt er das konsequent um. Das erste Modell, das den Laufsteg betritt, trägt ein typisch viktorianisches Kleid: hochgeschlossen, bodenlang, aufwendig verziert, cremeweiß. Das Modell steht still, doch: das Kleid bewegt sich! Wie von Geisterhand öffnet sich die Korsage und verschwindet, die Schöße raffen sich ins Nirgendwo, die Säume heben sich, und am Ende der fulminanten Rekonfiguration steht ein knielanges, kristallbesetztes Flapper-Kleidchen im Stil der 1920er.

Chalayan dekliniert sich durch die Moden des 20. Jahrhunderts und vollführt die magische Morphologie an weiteren Outfits, die sich in Sekunden vom Look der einen Dekade in den der nächsten verwandeln. Die Transformationen sind mit einem Soundtrack aus Maschinengeräuschen, Fragmenten aus Hitler-Reden und sich drehenden Rotorblättern unterlegt. Chalayans Schau ist ein Kommentar auf die Mode zur Zeit, die sich hauptsächlich darin ergeht, vergangene Epochen zu überarbeiten und neu aufzulegen.

Und er beweist seine These, nach der die Technik der Motor textilen Fortschritts und Möglichkeit der Mode sein kann. Ihm gelang damit ein innovatives und provokantes Event, eine Sensation in einer Zeit, in der vor allem gewinnorientierte Mode den Laufsteg füllt.

Selbst diesen Aspekt beherrscht Chalayan. Die sich wandelnden Kostüme hat er mit Hilfe eines Teams aus Technikern entworfen und konstruiert, das bereits den Hippogryphen in der Verfilmung von J. K. Rowlings "Harry Potter und der Gefangene von Askaban" entwickelte. Sie haben trotzdem den Charakter tragbarer Couture, nicht den eines Maschinenparks.

Andere Designer würdigen die Segnungen der Technik auf konventionellerem Weg. Die New Yorker Designerin Donna Karan zeigt Entwürfe, die in Stoff, Schnitt und Details an Funktionsbekleidung erinnern: Vom wasserabweisenden Parka, über das mit Schnüren justierbare Parka-Kleid bis zum Zweiteiler mit robusten Reißverschlüssen reicht ihre Interpretation.

Ähnlich sieht es im Hause Calvin Klein aus, wo Francisco Costa die Damen-Kollektion verantwortet. Seine Blousons muten an, als könnten sie in jeder Klimazone ohne Probleme bestehen, auch er schickt seine Modelle in schwarz glänzenden Parkas den Laufsteg hinunter. Die hautengen Spandex-Entwürfe des Schotten Christopher Kane werden mit einem Gürtel gefasst, dessen Schließe man in ähnlicher Ausführung am Taucheranzug oder der Fallschirmspringer-Ausrüstung findet. Neonfarben dominieren seine Kollektion und erinnern an die Buntheit von Windsurf-Anzügen.

Die Mode-Kritiker einigten sich auf "Sportlichkeit" als Trend für die kommende Saison und begrüßen in der Damenmode die Ablenkung vom Mädchen-Chic, der sich seit ermüdend langer Zeit in Baby-Doll-Kleidern und Mikro-Minis äußert. Spannender als die Klärung der Frage, wie sich nützliche Neopren-Westen am schönsten ins Sommer-Outfit fügen, sind allerdings die Perspektiven, die der tatsächliche Fortschritt durch Technik bietet.

Mein Kleid denkt mit

Die vielversprechend als "smart textiles" benannten Textilien, die bei Hussein Chalayan Aufsehen erregen, sind keine Zukunftsmusik, sie existieren schon heute, und Beispiele kennt jeder: Zu Beginn der 1990er waren T-Shirts populär, die ihre Farbe je nach Temperatur änderten, oder ihr Muster erst bei Sonneneinstrahlung preisgaben. Auch heute erhält man diese Design-Klassiker noch bei der US-Firma Nifty Cool Gifts.

Die auf Snowboarder-Ausrüstung spezialisierte Firma "Burton" bietet an einigen ihrer gewaltigen Daunenjacken ein sogenanntes "Audex"-System. In der Kapuze der Audex-Montur sorgen integrierte Lautsprecher für jegliche Beschallung und Kommunikation, auf den Außenseiten der Taschen befindet sich eine witterungssichere Kontrolleinheit, mit der sich iPod und Mobiltelefon steuern lassen, ohne dass man sie erst aus den Taschen fischen muss. Möglich macht diesen textiltechnischen Fortschritt die Bluetooth-Technologie.

Errungenschaften wie bügelfreie Textilien gehören längst zum Alltagsgut. Mitunter wirkt die Verknüpfung von Technik und Textil aber wie eine Fallstudie von Toyota, nach dem Motto "Entdecke die Möglichkeiten". So entwickelte man bei der Firma Nike im Jahr 2006 den Laufschuh "Air Zoom Moire". Der Schuh, der in Verbindung mit einem iPod getragen wird, übermittelt mit Hilfe eines Chips während des Trainings Daten über die erbrachte Leistung. Diese lassen sich später über einen Computer abfragen und zu einem Performance-Profil zusammenführen. Diese Fusion von Walkman und Pulsmesser lässt sich zwar - verpackt in einem modischen Schuh - gut bewerben, wirkt aber wenig revolutionär.

Dabei bietet die Idee, Körperfunktionen über den Weg der smart textiles zu speichern und für Dritte abrufbar zu machen, weitreichende Möglichkeiten. Erste Versuche unternahm das japanische und US-Militär, um die Lebenszeichen seiner Truppen auch aus sicherer Entfernung überprüfen zu können. Das sogenannte "Life-Shirt" überwacht die Herzfrequenz der Soldaten im Einsatz. Doch kluge Textilien leisten mehr als nur die Aufzeichnung und Kommunikation einer Herzfrequenz. Sie nehmen thermische, mechanische, magnetische Stimuli der Umwelt wahr und reagieren auf sie.

Auch zur Betreuung einer immer älter werdenden Bevölkerung bietet sich die Nutzung dieser technologischen Möglichkeiten an. Dehydrierung beispielsweise, eine der häufigsten Krankheitsursachen bei älteren Menschen, könnte durch das Tragen eines speziellen "Life-Shirts" vermieden werden. Das Shirt misst den pH-Wert der Haut und sendet im Fall einer Dehydrierung einen Impuls, den Wasserhaushalt auszugleichen. Haben derartige smart textiles das Potential, die Altenpflege weniger personalintensiv zu machen, oder könnten sie die Zeit verlängern, die ein alter Mensch zu Hause und nicht in einem Pflegeheim verbringt?

Kluge Textilien bieten Chancen, sind aber auch nicht ohne Risiken: Wie würdig ist es, wenn die Oberbekleidung den normalen Verlauf der eigenen Körperfunktionen kontrolliert?

Auch stellt sich hier die Frage des Datenschutzes. Entscheidend für die Durchsetzung am Massenmarkt ist ohnehin in erster Linie die emotionale Akzeptanz der Produkte. Sie müssen nicht nur Sinn machen, sie müssen auch sinnlich sein. Doch auch hier entwickeln sich erstaunliche Dinge: Auf der Internationalen Funkausstellung 2006 führte Philips seine "Lumalive"-Technologie vor. Anders als aufwendig beworbene, wandmontierte Flachbild-Fernseher namens "Ambilight", die nichts weiter können, als in verschiedenen Lichtfarben indirektes Licht hinter dem Bildschirm zu verbreiten, ist Lumalive ein kluges Textil mit viel größerem Potential.

Lumalive, so verrät schon sein Name, arbeitet mit Licht. Was auf den ersten Blick aussieht wie ein gewöhnliches, etwas grobschlächtiges T-Shirt, erwacht per Fernbedienung zum Leben: Ganzflächig werden die T-Shirts zu Leuchtflächen, die beliebig bespielt werden können: mit Bildern und Texten in allen Farben des Regenbogens. Der Inhalt wird über Software von Philips bereitgestellt und kann per USB-Verbindung vom Computer auf das LED-Display geladen werden. Jede "Lumalive"-Anwendung kommt noch dazu mit einer eigenen remote control zur Fernsteuerung, damit man selbst oder eine Person des Vertrauens die Abläufe steuern kann.

Dr. Martijn Krans, Technologie-Manager der Phototonics Textiles, einer Forschungsgruppe innerhalb des Philips- Konzerns, will die Entwicklung auf den Einsatz der "Lumalives" als Werbemittel konzentrieren, als mobile Plakatwand und variables Werkzeug für alle Arten von Events. So weit, so sinnvoll.

Designer Hussein Chalayan hat die neue Technologie längst in seine Herbst/Winter- Kollektion 2007 integriert und präsentierte unter anderem unwirklich selbstleuchtende weiße Kleider. Seine gesamte Schau kann man im Internet Revue passieren lassen.

"Lumalive" lässt sich übrigens auch per Mobiltelefon und SMS-Handy steuern. Wer jetzt nur kurz innehält und darüber nachdenkt, welche Möglichkeiten das einer Kultur eröffnet, die kommunikationsgierig ist und ihre Mobiltelefone hegt wie fleischgewordene Extensionen, der ahnt, welches Potential in "Lumalive" steckt. In einem nächsten Entwicklungsschritt, den Philips mit dem deutschen Textil-Institut TITV Greiz vollziehen will, werden die LEDs, die Lumalive leuchten lassen, direkt auf die Fasern aufgebracht. Dann wird es mit der Grobschlächtigkeit des Textils vorbei sein, und es wird sich so weich anfühlen wie gewöhnliche Baumwolle. Dann gilt es nur noch, die Leucht-T-Shirts auch tauglich für die Waschmaschine zu machen.

Bis das so weit ist, kann sich jeder Kommunikationsjunkie mit einer DVD-Ausgabe des Films "Tron" aus dem Jahr 1982 trösten. Und einer anderen Entwicklung: dem "Hug Shirt", das im vergangenen Jahr vom Time Magazine zu einer der besten Erfindung des Jahres gekürt wurde.

Francesca Rosella, Gründerin der britischen Firma "CuteCircuit", ist die Erfinderin des Hug Shirts, das hält, was es verspricht: Es verteilt Umarmungen. Und zwar nicht irgendwie, irgendwo, sondern so präzise und artikuliert, wie es sich jeder, der an einer Fernbeziehung leidet, nur wünschen kann.

Hier die Voraussetzungen: Die Romeos und Julias müssen ein Hug Shirt tragen. Sobald sich der Wunsch nach dem Austausch von Zärtlichkeiten regt, umarmen sie sich einfach selber. Elektronische Sensoren messen Körpertemperatur, Blutdruck, Herzschlag und Intensität der Umarmung und übertragen die aufgenommenen Daten per Mobiltelefon an den gewünschten Empfänger. Herrlich! Vor allen Dingen, weil das Hug Shirt noch dazu in diesem Jahr zum Preis eines iPods auf den Markt kommen soll.

Es bleibt also noch ein wenig Zeit, um sich zu überlegen, wie genau und wie sehr man sich auf die schöne neue Welt freut, in der sich das schmale Leibchen beim ersten Frösteln zur Wärmedecke mausert und man sein T-Shirt unversehens mit Nummern von Erotik-Hotlines zugespamt findet. Oder man trifft sich, ohne es zu wissen, plötzlich in einer leidenschaftlichen Umarmung mit dem Vater der Geliebten des Freundes. Seit Barbies Wendekleid hat sich einiges getan.

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