Klavier-Fern-Unterricht:Aha, hier holpert's noch ein bisschen!

Das Keyboard im Büro, die Noten im Drucker und den Musiklehrer im E-Mail-Postfach - ein Selbstversuch. Mit Videos.

Martin Zips

1. Das Vorgespräch

Mein Klavierlehrer heißt Volker Kunz. Er ist staatlich geprüfter Musikpädagoge und gibt schon seit vielen Jahren Klavier-Fern-Unterricht. Klavier-Fern-Unterricht geht so: Herr Kunz wohnt in Ratingen, das liegt in der Nähe von Düsseldorf. Ich, sein Schüler, übe in München und lerne bei ihm übers Internet.

Herr Kunz ist der Schwiegervater von Sönke Wortmann. Das ist ein lustiger Zufall, hat aber mit der Geschichte weiter nichts zu tun.

Auf die Idee mit dem Klavier-Fern-Unterricht kam Kunz so: Vor 25 Jahren hatte einer seiner Schüler, ein Speditionskaufmann, einen Herzinfarkt. Der Mann musste sofort ins Krankenhaus und konnte auch später nicht mehr zum Unterricht erscheinen. Also schickten sich der Speditionskaufmann und sein Klavierlehrer ständig Kassetten zu. Der Schüler nahm seine Übungen am Piano auf der Reha-Station auf, der Klavierlehrer analysierte sie: "Aha, hier holpert's noch ein bisschen."

Oder: "Da haben Sie das Kreuzchen vergessen." Irgendwann dachte sich Kunz: Eigentlich ist das doch eine tolle Idee. Fern-Unterricht. Gerade für Leute, die es nicht wöchentlich in die Klavierstunde schaffen.

Heute betreut Herr Kunz, 65, mit drei anderen Musikpädagogen 200 Schüler in Deutschland, Österreich, der Schweiz, Liechtenstein, der Türkei und den Niederlanden. Statt Kassetten tauscht er mit seinen Schülern nun Audio-E-Mails aus. "Es gibt 20.000 arbeitslose Klavierlehrer in Deutschland", sagt Herr Kunz. "Ich verstehe nicht, warum bisher ich der Einzige bin, der diese Idee hatte."

2. Die Technik

Per Post sendet mir Herr Kunz leihweise ein Keyboard, eine Bedienungsanleitung und ein silbernes MP3-Aufnahmegerät (das ist so etwas wie ein Kassettenrekorder, nur kleiner) ins Büro. Dazu gibt es eine Internetadresse, bei der ich mir mit geheimen Zugangsdaten die erste Lektion herunterladen soll. Es dauert ein bisschen, aber dann sind die Noten ausgedruckt.

Früher, bei Frau Gleichmann in Alsdorf, saß ich mit dicken Sonatinenbüchern im Ohrensessel neben dem Konzertflügel und wartete darauf, aufgerufen zu werden. Es roch nach Kölnisch Wasser und alten Büchern. Bevor es losging, fragte mich Frau Gleichmann, ob wir jüngst auch dieses eindrucksvolle Konzert im Fernsehen gesehen hätten. Dann durfte ich auf ihrem Konzertflügel vorspielen. Großartig.

An all das muss ich denken, als ich das nach Plastik riechende Keyboard von Herrn Kunz aus der Verpackung schäle und zu verstehen versuche, wie ein MP3-Rekorder funktioniert. "Heutzutage gibt es sogar Klaviertastaturen zum Ausrollen", sagt Kunz. "Die kann man bequem in den Koffer legen und überallhin mitnehmen. Ich empfehle Ihnen aber eine solide Klaviertastatur." Das Tolle ist: Weil man bekanntlich überall auf der Welt ins Internet kommt, kann man theoretisch auch überall auf der Welt bei Herrn Kunz Klavierstunden nehmen.

Für 51 Euro im Monat, inklusive Leihinstrument.

"Einer meiner Schüler sitzt in der Schweiz auf einem Berg und schneit dauernd ein", sagt der Klavierlehrer. "Der ist froh, dass er bei mir Unterricht hat und nicht ständig ins Tal fahren muss." Die Schüler von Herrn Kunz sind zwischen 30 und 60 Jahre alt. Eine Psychologin aus Traunstein ist darunter, eine Diplom-Designerin aus Berlin, ein Lackierer aus Zwickau - sie alle schicken ihre Übungen per E-Mail nach Ratingen. "Ein Schüler sitzt in der Einflugschneise eines Flughafens", sagt Herr Kunz. "Wenn ich mir dessen Übungen anhöre, so höre ich auch immer die Jumbos, die gerade über sein Haus donnern." Kinder lehnt Kunz im Internet-Fern-Kurs ab. "Junge Leute sollten persönlichen Kontakt zum Lehrer haben."

3. Die erste Stunde

Klavierstunden im Büro sind eine komplizierte Sache: Ständig klingelt das Telefon. Und die Kollegen sind froh, wenn man nicht allzu laut übt, weil sie ja gleich nebenan arbeiten. Man selber arbeitet natürlich auch - zum Beispiel an einer C-Dur-Version von "Blowin' in the Wind".

Anders als bei Frau Gleichmann sitzt der Klavierlehrer nun nicht mehr schräg hinter mir. Ich muss ihn mir als Audiodatei erst auf die Festplatte kopieren, dann auf den Wechseldatenträger ziehen, dann den silbernen MP3-Rekorder ans Keyboard anschließen. Es vergeht ein halber Tag, bis man das kapiert. Am Ende aber spricht der Klavierlehrer aus dem Lautsprecher meines Keyboards: "Hallihallo! Ich grüße Sie!" Nett.

4. Die erste Übung

Bei Frau Gleichmann musste ich immer ein Stück - Beethoven, Bach oder Brubeck - vorspielen. Dann sagte sie mir, was ich noch besser machen müsste und schrieb mir dasselbe Stück abermals auf. Nun lege ich den MP3-Rekorder auf das Keyboard, zähle "1,2,3,4" und beginne mit der Aufnahme zu "For he's a jolly good fellow". Das ist schon ein bisschen einsam, so alleine "For he's a jolly good fellow" einem MP3-Rekorder vorzuspielen. Noch einsamer wird es, als ich - wie von Klavierlehrer Kunz befohlen - das Playback einschalte. Herr Kunz sagt, es sei sehr wichtig, zu Playback spielen zu können. So lerne man, sich in ein Ensemble einzufügen. Teamfähigkeit und so. Das Problem ist, dass das Ensemble klingt wie eine scheppernde Karaoke-Maschine. Hilft aber nix. Ensemblefähigkeit sei wichtig, sagt Kunz.

5. Das Klavier

Jeden Morgen, wenn ich im Büro üben möchte, muss ich mein Keyboard von der Fensterbank auf den Schreibtisch tragen - und nachher wieder zurück. Schließlich brauche ich meinen Schreibtisch auch noch für andere Sachen. Einmal stolpere ich über meinen Rucksack und falle zusammen mit dem Klavier aufs Telefon. Glücklicherweise passiert uns nichts.

Ich drucke mir die Noten zu meiner neuen Lektion aus und klemme sie auf den Notenständer, der zuvor mit einem Klettverschluss befestigt werden musste. "Sie können natürlich auch an einem echten Klavier üben und den MP3-Rekorder einfach danebenlegen", erklärt mir Herr Kunz. Während wir miteinander telefonieren, ruft gerade Sönke am Handy an. Sönke Wortmann! Der Regisseur! Der Schwiegersohn meines Klavierlehrers! "Ich kann grad nicht, Sönke", sagt Herr Kunz. "Ich telefoniere mit meinem Schüler." Wahnsinn.

6. Die Analyse

Immer wenn ich meine neueste Übung per E-Mail abgeschickt habe, fühle ich mich ein bisschen so, als hätte ich einem Vorgesetzten auf den Anrufbeantworter gesprochen. War das jetzt peinlich? Kommt das, was ich gerade aufgenommen habe, auch richtig super rüber? Es dauert nie länger als ein paar Stunden, da findet sich in meinem E-Mail-Eingang die Analyse von Herrn Kunz.

Manchmal kritisiert er meine "unkontrollierte Anschlagstechnik". Dann nörgelt er, ich hätte doch wissen können, dass das Playback am Ende wieder von vorne beginnt. "Schließlich steht ,Salon-Version' drüber."

Wenn ich während der Aufnahme mal vor mich hin rede, dass ich dieses dogmatische 1,2,3,4-Gezähle ziemlich nervig finde, schallt es bald darauf zurück: "Dogmatisch? Was heißt hier dogmatisch?" Herr Kunz kann sehr streng sein. Aber dann verteilt er auch wieder "ein dickes Kompliment" und verkündet Durchhalteparolen. "Hätten Sie Schreiberling werden können, wenn Sie nicht vorher viel Literatur gelesen hätten?" Nö. "Eben."

7. Der Fortschritt

Nach drei Wochen gibt mir Herr Kunz die Noten zu "Round Midnight" von Thelonious Monk. Endlich. Mit der Videokamera muss ich nun meine Hände beim Spielen filmen. So kann Herr Kunz in Ratingen meine Handhaltung analysieren. Nicht einfach, das Video später in eine E-Mail zu bekommen. Klappt aber. Ich müsse noch mehr in die schwarzen Tasten reinrutschen, sagt Kunz. Wegen der Ensemblefähigkeit. Ich bleibe dran.

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