Kindesmissbrauch:"Ich habe jetzt verstanden, dass ich keine Angst haben muss"

Kompanie Kopfstand

Die Schauspieler der Kompanie Kopfstand halten Händchen.

(Foto: Foto: BzgA)

Egal, ob es um übergriffige Verwandte geht oder um sexuellen Missbrauch: Bei einem Theaterstück in Erlangen sollen Kinder lernen, sich zu wehren. Aber funktioniert das?

Von Max Sprick, Erlangen

Als Vladimir fragt, wie er seine Oma los wird, schnellen etliche Kinderhände nach oben. Vladimir ist zehn Jahre alt und wird von seiner Großmutter "Purzelbäumchen" genannt und geknuddelt und gebusselt, sie schlabbert ihn regelrecht ab. Der Kleine ist schüchtern und will die Oma nicht verärgern. Lieb hat er sie, ja, natürlich, aber ein Purzelbäumchen mag er nicht sein und abgeschlabbert werden schon gar nicht.

Dritt- und Viertklässler aus dem fränkischen Erlangen sitzen an diesem Vormittag im Juli statt in Klassenzimmern ihrer Grundschulen im großen Saal der Heinrich-Lades-Halle. Auf der Bühne verdeutlicht ein Schauspieler als Vladimir das Dilemma des Kindes: Wie sage ich einem Erwachsenen, dass mir nicht passt, wie er mit mir umgeht? Die "Kompanie Kopfstand" präsentiert 300 Kindern in Erlangen ein Theaterstück mit der Botschaft: Kinder haben Rechte. Egal, ob es um das Abschlabbern durch die Oma, oder um sexuellen Missbrauch geht. Auch wenn das natürlich ein großer Unterschied ist.

Anfang Juli schaltete das Bundeskriminalamt eine Kinderporno-Plattform ab, die im Darknet fast 90 000 Mitglieder hatte. Zum Teil sollen diese ihre eigenen Kinder untereinander angeboten haben. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) geht davon aus, dass in Europa etwa 18 Millionen Mädchen und Jungen von Missbrauch betroffen sind. In Deutschland nimmt die Zahl minderjähriger Missbrauchsopfer weiter zu, einer Studie des Uniklinikums Ulm zufolge zählt dazu jeder Siebte Unter-14-Jährige. Dass es Prävention bedarf, ist offensichtlich. Wie aber soll die konkret aussehen?

Schülertheater, das klingt nach Pflichttermin. Nach Pädagogen, die versuchen, in möglichst authentischer Jugendsprache lustig zu sein, während sie unlustige Inhalte transportieren. Aber dann doch oft zum Fremdschämen. In Erlangen ist das anderes. Hier hören nun hunderte Grundschüler zu, ohne zu tuscheln oder rumzualbern.

"Wenn jemand euren Penis oder eure Scheide anfasst, oder von euch verlangt, das bei sich zu tun, ist das sexueller Missbrauch", sagt eine Schauspielerin der vierköpfigen "Kompanie Kopfstand" auf der Erlanger Bühne. Im Hintergrund trommelt ihr Kollege dazu lautstark.

Das Stück, das die Schüler sehen, ist vor vier Jahren entstanden. Gestartet von der Bundeszentrale für gesellschaftliche Aufklärung (BzgA), die neben der Aufführung Workshops für Lehrer und Eltern abhält, damit sie die Inhalte nachbereiten können. "Oft wissen Lehrer nicht, wie sie mit diesem schwierigen Thema im Unterricht umgehen sollen", sagt Charlotte Baumgart, eine der Kopfstand-Schauspieler. Viele Schulen hätten das Thema Kindesmissbrauch und Prävention nicht im Lehrplan. "Es gibt Schulen, die sind da schon weiter, aber ganze Bundesländer, die denken, es gäbe bei ihnen keinen Kindesmissbrauch." Das seien dann die Bundesländer, in denen sich Lehrer über die Wortwahl des Stücks beschweren: "Scheide" und "Penis" seien für acht- bis zwölf-Jährige Tabuwörter.

Das Stück ist authentisch, weil es auf den Erfahrungen von Kindern beruht. Neben Vladimirs Oma-Problem zeigt die Kompanie Kopfstand weitere Fälle, von denen ihnen Kinder in einer dreimonatigen Recherche berichtet haben. Da ist Paula, zwölf Jahre alt und verliebt - aber noch nie geküsst worden. Ihre Freundin drängt Paula zum Küssen, obwohl die noch gar nicht will. Oder Alina, deren ältere Schwester bald heiratet und nicht weiß, dass ihr Verlobter Alina heimlich begrabscht.

Wie Vladimir, Paula und Alina mit ihrer Not umgehen, stellen die Schauspieler überspitzt dar, mit viel Bewegung und Humor. Wenn es ernst wird, werden auch sie ernst - und binden die Kinder in die Problemlösung ein. Sie werden nach Ideen gefragt, wie zum Beispiel Alina ihrer Schwester vom Missbrauch erzählen kann, obwohl sie Angst hat, die Traumhochzeit zu ruinieren.

"Wir wissen, dass immer Kinder im Publikum sitzen, die selbst Opfer von Missbrauch und Misshandlung geworden sind", sagt Kopfstand-Schauspielerin Julia Bihl. "Deswegen ist es wichtig, nicht nur die Opfer zu zeigen, sondern auch zu verdeutlichen: Es gibt einen Weg. Du musst nicht dein Leben lang ein Stigma mit dir rumtragen."

"Und, war's arg peinlich?"

"Wenn man die Kinder direkt auf dieses Thema anspricht, haben sie oft Schwierigkeiten Worte zu finden", sagt Bihl. Die spielerische Herangehensweise helfe. "Viele erzählen uns nach unseren Aufführungen, sie hätten viel gelernt."

Eine Neunjährige wartet nach dem Stück vor der Bühne, sie spricht die Schauspieler an: "Euer Stück ist sehr hilfreich. Ich habe jetzt verstanden, dass ich keine Angst haben muss, falls mir so etwas passiert."

Für die, die doch Angst haben, oder von ihrem Stigma erzählen wollen, gibt es konkrete Hilfe. Mitarbeiter verschiedener Erlanger Beratungsstellen stellen sich am Ende vor, die Kinder bekommen Visitenkarten und die Nummer gegen Kummer sowie eine Mailadresse. "Hilfe in Anspruch zu nehmen, kostet Mut", sagt Schauspielerin Charlotte Baumgart, "ihr habt aber ein Recht auf Hilfe!"

Vladimir soll sich erst einmal selbst helfen und seiner Oma am besten einen Brief schreiben, haben die Kinder beschlossen. Das hat er dann auch gleich getan - die Oma versteht seine Ablehnung und verspricht, ihn künftig weniger impulsiv zu begrüßen.

"Und, war's arg peinlich?", fragt danach eine Lehrerin ihre Schüler. "Wieso denn peinlich?", antwortet ein Mädchen.

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