Kindererziehung:Amerikas erotische Beziehung zur Angst

Danielle Meitiv, Rafi Meitiv, Dvora Meitiv

Dvora Meitiv mit ihren Kindern auf dem Weg nach hause in Silver Spring.

(Foto: AP)

Jeden Tag eine neue Bedrohung: Die Menschen in den USA kultivieren ihre Hysterie. Vielleicht ist es deshalb in so mancher Vorstadt gespenstisch leer wie in einem Roland-Emmerich-Film.

Von Sacha Batthyany, Silver Spring/Maryland

Wer neu aus Europa in eine amerikanische Vorstadt zieht, der ist zunächst von der Idylle erschlagen, den netten Holzveranden, den freundlichen Nachbarn, die immerzu lächeln. Es müssen erst ein paar Monate vergehen, bis man bemerkt, dass hier etwas fehlt. Nur was? Bis einem endlich die Augen aufgehen: die Kinder.

Nirgends Mädchen mit Zöpfen. Nirgends Jungs mit aufgeschlagenen Knien. Nirgends Kreidezeichnungen am Boden. In der typischen amerikanischen Vorstadt ist es so gespenstisch leer, wie in einem dieser Roland-Emmerich-Filme über die Postapokalypse.

Kinder alleine im Park spielen lassen? In Amerika ein Tabu

Es heißt immer, Amerikaner würden ihre Kinder lieber vor den Fernseher setzen, statt im Dreck wühlen zu lassen. Es war oft auch von Helikopter-Eltern die Rede, die ihre Kinder auf Schritt und Tritt begleiten. Doch das sind nur Symptome eines tieferliegenden Phänomens, das nicht nur die Kindererziehung, sondern das ganze Land bestimmt: "In Amerika herrscht die Totalhysterie", sagt Danielle Meitiv aus Silver Spring, einem Vorort von Washington D.C., "deshalb haben viele Angst, ihre Kinder allein vor die Tür zu lassen."

Meitiv schlägt sich nun schon seit mehr als einem Jahr mit der Polizei und der Kinderschutzbehörde rum, weil sie ihre Kinder, den zehnjährigen Rafi und die sechsjährige Dvora, alleine im Park spielen ließ. In Amerika ein Tabu. "Plötzlich behandelt man mich, als wäre ich eine Kriminelle und hätte die beiden mit Zigaretten gefüttert." Meitiv nahm sich einen Anwalt und begann sich zu wehren. "Es geht ja nicht nur um meine Kinder, sondern um den gesunden Menschenverstand."

Es vergeht kein Tag ohne neue Bedrohung — ein Land sitzt auf Nadeln: Angst vor Terror, vor Muslimen und Mexikanern; vor heimischen Zecken, südamerikanischen Zika-Viren und Atombomben aus Nordkorea; vor dem sozialen Abstieg, schlechten Schulnoten, hohen Cholesterinwerten und vor Schneefällen, die sich zu "Monsterstürmen" entwickeln könnten, wie es im vergangenen Winter hieß, worauf die Menschen sämtliche Supermärkte leerkaufen und sich im Keller die Notfallvorräte stapeln.

Statistisch war das Leben nie sicherer - aber das Bauchgefühl widerspricht dem

Auch Donald Trumps Aufstieg ist ohne Amerikas erotische Beziehung zur Angst nicht zu verstehen, denn Ängste werden geradezu zelebriert: sie sind der Kitt in der amerikanischen Gesellschaft. Man sieht das nicht zuletzt an der gottgleichen Verehrung der Superhelden in bunten Kostümen, die die Welt in allerletzter Sekunde vor dem Untergang retten.

Die Angst um die Kinder aber ist die intimste von allen, und sie verunsichert eine ganze Generation junger Eltern, die nur das Beste für ihre Kinder will, aber bei all den Schauermärchen nicht mehr weiß, was das Beste ist. Dabei war statistisch gesehen das Leben in den USA nie sicherer.

"Unser Bauchgefühl hat sich verändert", sagt Danielle Meitiv. "Man geht heute immer davon aus, dass etwas passiert, und wer das schlimmstmögliche Szenario nicht einkalkuliert, der gilt als schlechte Mutter oder mieser Vater."

Die ganzen Auswirkungen dieser Totalhysterie werde man in ein paar Jahren erkennen, sagt Meitiv, "erste Profiteure wie Trump gibt es bereits." Die Hysterie werde das Land verändern, prophezeit sie und die Mutter aus Silver Spring hat womöglich recht: Denn die Angst isst bekanntlich die Seele auf.

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