Kinderarmut:Kinderarmut ist in Deutschland ein Dauerzustand

Kinderarmut: Armut bedeutet in Deutschland heutzutage vor allem, sich viele kleinen Dinge nicht leisten zu können (im Bild: Kinder in einem Kindergarten in Hamburg).

Armut bedeutet in Deutschland heutzutage vor allem, sich viele kleinen Dinge nicht leisten zu können (im Bild: Kinder in einem Kindergarten in Hamburg).

(Foto: Christian Charisius/DPA)

Jedes fünfte Kind in Deutschland lebt in Armut. Und wer einmal abgehängt ist, bleibt es meist. Die Zahlen sind nicht neu, aber umso alarmierender.

Kommentar von Ulrike Heidenreich

Der Junge ist dreckig, seine Kleidung stinkt. Die Mitschüler mobben ihn, halten sich demonstrativ die Nase zu, wenn sie ihn sehen. Der Junge - er wird Lehrer - erzählt später, warum: Seine Mutter konnte sich keine Waschmaschine leisten, war völlig überarbeitet. Es ist dies einer der eindrucksvolleren Momente im Film "Fack ju Göhte 3". Das Drehbuch ist nah dran am Leben jener Gruppe, die schnell als Problemjugendliche abgestempelt oder als Generation ohne Chance abgehakt wird.

Wie in einem guten Drehbuch tritt in dieser Woche, wenn das Finale der Erfolgstrilogie in den deutschen Kinos anläuft, die Bertelsmann-Stiftung auf - mal wieder mit einer neuen Studie, diesmal zur Kinderarmut. Jedes fünfte Kind in Deutschland lebt demnach über mehrere Jahre konstant in einer Notlage. Die Zahlen sind nicht neu. Der Skandal, dass 21 Prozent aller Jungen und Mädchen mitten unter uns von Armut betroffen sind, ist seit Jahren geläufig. Die Ernsthaftigkeit dieses Problems verschwindet jedoch hinter der routinierten Akribie, mit der Studien zum Thema aneinandergereiht werden. Das ist gefährlich.

Armut bedeutet in Deutschland nicht, nichts zu essen zu haben

Kinderarmut, das ist nicht nur, keine Waschmaschine zu haben. Das ist nicht, keine Markenjeans, keine teuren Ultraboost-Schuhe, keine Zahnspange mit durchsichtigen Brackets zu haben, die extra kosten. Kinderarmut ist: Besser keine Freunde zu sich nach Hause einzuladen, weil die Wohnung so klein und billig eingerichtet ist. Zu verstummen, wenn die anderen in der Klasse von der Urlaubsreise in den Süden erzählen. Kinderarmut ist: sich schämen. Ausreden ausdenken, wenn acht Euro für den Kinobesuch mit den Freunden fehlen. Es ist das demütigende Gefühl, nicht bei allem dabei sein zu können, obwohl man es möchte - ja, es ist die bittere Erkenntnis, ausgegrenzt zu sein.

Armut bedeutet in Deutschland nicht, kein Essen im Kühlschrank und kein Dach über dem Kopf zu haben. Es bedeutet, auf Dinge verzichten zu müssen, die für andere ganz normal sind und zum Leben dazugehören. Die Formel, wer als arm gilt, ist ja schnell definiert: Das sind Menschen, die in Haushalten leben, denen weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Nettoeinkommens zur Verfügung stehen. Als arm gelten Erwachsene und Kinder, die staatliche Grundsicherungsleistungen beziehen.

Vor allem bei den Alleinerziehenden und ihren Kindern steigt das Armutsrisiko

Die Bertelsmann-Stiftung hat diesmal über einen Zeitraum von fünf Jahren die Einkommenssituation von Familien beobachtet und Antworten von 3180 Jugendlichen ausgewertet. Vor allem bei den Alleinerziehenden und ihren Kindern steigt das Armutsrisiko weiter heftig. Die Ergebnisse von dieser zu anderen Armutsstudien verschiedenster Wohlfahrtsverbände unterscheiden sich nur marginal. Es irrt, wer dies aber als Teil einer normalen Entwicklung abwinkt nach dem Motto: Die Mieten steigen ja auch und die Lebensmittel werden immer teurer. Wer so denkt, verkennt, was die Armut in den Herzen und Köpfen junger Menschen unwiderruflich anrichtet. Auf Dauer macht Armut aggressiv, laut, lustlos.

Das ständige Gefühl, ungerecht behandelt zu werden, lähmt Menschen. Das Problematische ist ja, dass Kinderarmut in Deutschland ein Dauerzustand ist. Wer einmal arm ist, bleibt arm. Die Aussichtslosigkeit wird sozusagen von Generation zu Generation weitervererbt. Jeder hat eine Chance verdient - doch seit Jahren sinken die Chancen für arme Kinder in Deutschland, und es ändert sich wenig.

Sobald wieder eine neue Studie zur Kinderarmut erscheint, sinnieren Politiker darüber nach, an welchem Schräubchen im bisherigen System der Familien- und Kinderförderung sie diesmal drehen könnten. Das hilft alles nichts. Sie sollten mutiger sein, sich bei den Koalitionsverhandlungen ein Herz fassen und die vielen staatlichen Leistungen zu einer zusammenlegen. Das könnte die Kindergrundsicherung sein, wie sie Kinderhilfswerke und Wissenschaftler schon seit vielen Jahren fordern. Das Modell sieht 573 Euro vor, die für jedes Kind für jeden Monat garantiert sind. Das System wäre kompliziert, denn die Kindergrundsicherung soll einkommensunabhängig funktionieren. Eltern mit kleinen und mittleren Einkommen erhielten für ihre Kinder die gleiche Unterstützung wie Eltern mit hohen Einkommen, die derzeit von steuerlichen Freibeträgen stärker profitieren. Es lohnt sich aber, das durchzurechnen. Schließlich geht es um 2,7 Millionen Jugendliche, die in Armut aufwachsen. Das geht an die Substanz einer Gesellschaft.

Der Neuigkeitswert dieser Zahlen zur Kinderarmut ist niedrig. Der Nachrichtenwert jedoch alarmierend hoch.

Es ist dringend Zeit, zu handeln.

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