Karriereabsturz:620 erfolglose Bewerbungen

Karriereabsturz: Christian Maas mit seinem Hund Osca

Christian Maas mit seinem Hund Osca

(Foto: privat)

Christian Maass war Manager. Alles lief wunderbar: Job, Frau, Kinder, Haus. Dann kam der Bruch. Eine Geschichte vom Fall und Wiederaufstieg.

Protokoll: Lars Langenau

"Es war die Zeit der Blase der New Economy und ich fing bei dem rasant aufsteigenden Rechtevertrieb EM TV von Thomas Haffa in München an. Nach einem halben Jahr wechselte ich zu ProSieben und blieb sechs Jahre. Ich gründete eine Familie, kaufte ein altes Bauernhaus im Münchner Umland, reiste beruflich und privat viel durch die Welt. Ich hatte das Gefühl, das Glück gepachtet zu haben.

Doch 2002 wurde ich gefeuert. Im Sog der Kirch-Pleite wackelten viele Firmen. Ein paar Tage vor der Kündigung hatte mein jüngerer Bruder Suizid begangen, meine erste Tochter war zur Welt gekommen und wir hatten das fremd finanzierte Eigenheim in Hallbergmoos bezogen. Der finanzielle Druck saß mir im Nacken, doch zunächst fand ich keinen neuen Job. Immerhin war ich als Vater für meine kleine Tochter da. Nach neun Monaten zu Hause klappte es endlich bei einer Münchner Brauerei.

Vielleicht hätte ich mich damals schon selbständig machen sollen, doch dazu fehlte mir das nötige Selbstvertrauen. 2006 folgte der nächste Jobwechsel, zu einem Getränkeunternehmen in Erding. Dort baute ich ein Tochterunternehmen auf, doch das lief nicht so erfolgreich wie geplant - ich wurde auf ein Abstellgleis geschoben. Reine Sachbearbeitung. Ich bin mir zu nichts zu schade, aber für den Job war ich einfach hoffnungslos überqualifiziert - und überbezahlt. 2009 verlor ich erneut die Stelle.

Damals war die Beziehung zu meiner Frau bereits sehr schwierig. Einmal dachte ich vorsichtig darüber nach, einfach abzuhauen, und ohne Spuren zu hinterlassen irgendwo neu zu beginnen. Doch ich hatte Kinder und damit eine große Verantwortung übernommen. Eigentlich musste es zum Knall kommen. Mit der Frau und im Job. Und der kam dann auch.

Innerhalb eines Vierteljahres brach alles zusammen

Ich gründete ein Auto-Pfandleihhaus. Die Idee hatte ich lange mit mir herumgetragen. Das freie Unternehmertum machte mir riesigen Spaß. Nur: Die Firma warf nach ein paar Monaten noch nicht genug ab. Also bewarb ich mich bei einer Softwarefirma in München, doch die war bereits pleite, als ich dort anfing. Das erfuhr ich jedoch erst, als es zu spät war. Das Unternehmen ging wenige Monate nach meinem Einstieg insolvent.

Innerhalb eines Vierteljahres brach für mich alles zusammen. Die misslungene Unternehmensgründung, der Jobverlust - und dann trennte sich auch noch meine Frau von mir. Sie wollte "noch mal ein neues Leben anfangen". Die ganzen finanziellen Verpflichtungen - Unterhaltszahlungen, Schulden und die Finanzierung meines eigenen Lebens - wurden mir zu viel. Mein Finanzplan ging nicht mehr auf.

Einen Großteil des Inventars unseres Eigenheims verhökerte ich über Ebay-Kleinanzeigen. Und ich zog von 130 Quadratmetern in ein kleines Zwei-Zimmer-Appartement nach Mainz, wo ich das Marketing eines Caterers leiten sollte - im Unternehmen eines alten Schulfreundes. Sozialen Anschluss hatte ich kaum, aber im Unternehmen gab es genug zu tun, also arbeitete ich viel, inklusive Wochenenden.

Meine Frau brachte einen kleinen Sohn mit in die Ehe. Ich zog ihn auf und liebe ihn wie mein eigenes Kind. Nach der Trennung durfte ich nicht mal zu seinem 18. Geburtstag kommen. Zwei Töchter haben wir gemeinsam. Die Kinder, damals fünf, neun und 13 Jahre alt, vermissten mich sehr und ich sie auch. Wir telefonierten täglich mehrfach, oftmals musste ich mir eine halbe Stunde lang die weinenden Kinder am Telefon anhören und sie trösten, so gut es ging. Wenn ich sie in Bayern besuchte, durfte ich im Haus meiner Frau wohnen, die dann zu ihrem Freund nach Baden-Württemberg fuhr. Doch wenn ich sonntags den Heimweg antrat, war der Trennungsschmerz schier unerträglich. Die Jüngste wollte sich mal im Auto festketten. Auch ich weinte dann regelmäßig im Auto.

Ich hätte die Scheidung niemals durchgezogen, so lange die Kinder noch so klein waren. Mir tat die Trennung von den Kindern unglaublich weh. Obwohl ich noch heute glaube, dass meine Exfrau und ich füreinander bestimmt waren, habe ich die Scheidung mit wenigen Emotionen erlebt. In der Trennungsphase legte sie ein Gesicht an den Tag, das nicht mehr mit dem des Menschen übereinstimmte, den ich zehn Jahre lang geliebt hatte.

Meine Exfrau zog nach der Trennung mit den Kindern in ihre Heimat zurück, nach Neuburg an der Donau. Die Entfernung zwischen Mainz und Neuburg war viel zu groß und die Möglichkeiten, die Kinder zu sehen, viel zu selten. Der Job in Mainz sollte nach wenigen Monaten enden.

Den Kindern hinterhergezogen

Ende 2011 zog ich hinterher - nach Neuburg an der Donau, wo ich niemanden kannte. In eine Zwei-Zimmer-Wohnung, ohne Kücheneinrichtung und ohne komplettes Mobiliar. Im Wohnzimmer standen Gartenmöbel, ich kochte auf einem Campingkocher, spülte im Waschbecken im Bad.

Und ich zog ohne Job dahin. Auch auf die Gefahr hin, zukünftig nicht mehr als Vertriebsleiter, Marketing- oder Innendienstleiter arbeiten zu können. Irgendetwas würde sich schon finden - hatte ich doch bisher immer Glück gehabt in meinem Leben. Ich hatte noch Ersparnisse, die mir diesen Schritt ermöglichten. Hauptsache, ich war wieder in der Nähe der Kinder und konnte wieder daran teilhaben, wie sie aufwachsen.

Ohne Arbeit hätte ich mich eigentlich um die Kinder kümmern können, doch an der 14-Tage-Besuchsregelung änderte sich nichts. Ich traf mich manchmal heimlich nach der Schule mit meinen Töchtern und radelte mit ihnen nach Hause, verabschiedete mich an einer Ecke vor dem Zuhause meiner Ex.

Ich wusste, dass meine Kinder irgendwann ihre eigenen Wege gehen würden. Heute sehe ich die Große manchmal nur alle vier Wochen, weil sie auch ihre Freunde treffen möchte. Bei ihr fing das mit 13 Jahren an, sie ist eines Sonntagabends als kleines Mädchen weggefahren, zwölf Tage später kam eine völlig veränderte Jugendliche zurück. Mit der Trennung hatte ich bereits sehr viel von meinen Kindern verloren, die Pubertät nimmt dir dann ein weiteres großes Stück von ihnen. Zumindest vorübergehend.

Zu alt für den Arbeitsmarkt

Ich bewarb mich und bewarb mich und bewarb mich - insgesamt mehr als 620 Mal. Nichts. Keiner wollte, dass ich - mit meiner qualifizierten internationalen Ausbildung, meinen herausragenden Zeugnissen und meiner einschlägigen Berufserfahrung in Führungspositionen - für ihn arbeite. Keiner. In den Arbeitsagenturen haben sie sich auch gewundert. Ich war kurz vor meinem 50. Lebensjahr, ausgebildeter Diplom-Betriebswirt an der Fachhochschule, habe einen Master of Arts in London, was in Deutschland einem Diplom-Volkswirt entspricht.

Aber ich war einfach zu alt für den deutschen Arbeitsmarkt. So interpretierten das zumindest Führungskräfte in den Jobcentern Neuburg und Ingolstadt, bei denen ich wiederholt vorsprach und eindringlich um Hilfe bat. Mit 50 bist du in Deutschland, zumindest in einigen Branchen und Fachbereichen, nicht mehr interessant: "nicht mehr flexibel", "zu viele finanzielle und soziale Verpflichtungen". Bist vielleicht auch nicht mehr bereit, jeden Abend bis 22 Uhr und am Wochenende zu arbeiten.

Was war nur los? Ich hatte zuvor relativ hohe Gehälter bekommen, doch das mittlere Management wurde in vielen Betrieben abgebaut. Nun gab man mir noch nicht einmal die Chance, für die Hälfte des Gehalts zu arbeiten, um mich zu beweisen, zu zeigen, was ich kann.

Furcht vor dem sozialen Abwärtsstrudel

Meine Psyche ging den Bach hinunter, schon bald musste ich mich in Behandlung begeben. Erstmals in meinem Leben lernte ich Langeweile und Einsamkeit kennen - in fürchterlichen Ausprägungen. Ich war mir fast sicher, keine neuen Möbel oder Klamotten mehr zu brauchen, da es nun vorbei sei mit meiner Glückssträhne und ich unweigerlich in den sozialen Abwärtsstrudel geraten würde.

Die Jahre 2011 bis 2013 wurden zu einer sehr schwierigen Zeit, in der es mir richtig schlecht ging. Ich zweifelte an mir, saß nur noch zu Hause rum, wachte morgens auf und dachte 'Oh Scheiße, schon wieder so ein Tag', ging abends ins Bett und dachte 'Gott sei Dank'. Die Welt war nur noch grau und schwarz. Ich dachte zu dieser Zeit auch mal daran, mein Leben zu beenden. Nur meine Kinder hielten mich davon ab.

Es reichte nicht zum Leben

Zu dieser Zeit waren nur noch zwei Freunde für mich da, die ich seit meiner Kindheit kenne. Beide wohnen weiter weg, aber ich weiß diese Freundschaften seit diesen Tagen noch mehr zu schätzen. Ich hatte plötzlich einen Blutdruck von 200 und bekam Angst um meine Gesundheit. Aus dem Tief kam ich letztendlich nur durch Antidepressiva. Die Tabletten sicherten mir damals mein Überleben.

Ich versuchte mich als selbständiger Immobilienmakler. Aber das reichte nicht zum Leben. Ein Bekannter fragte mich eines Tages: 'Was würdest du machen, könntest du noch mal von vorne anfangen?' Ich antwortete spontan: 'Ein Bed & Breakfast - in einer landschaftlich schönen Lage.' Ohne ernsthaften Antrieb begann ich mich umzusehen. Nach einem kleinen Hotel - mal im Bayerischen Wald, mal in meiner Heimat Rheinhessen, mal sonst wo.

Irgendwann konnte mich eine Freundin aus Ingolstadt nach wiederholten Versuchen motivieren, zu einem Objekt ins Altmühltal zu fahren. Nach Obereichstätt - zu einem Hotel, Baujahr 1907, das bereits seit zwei Jahren Leerstand, mit 19 Zimmern, einem Landgasthof und einer 100 Quadratmeter großen Pächterwohnung.

Mein Leben hat sich komplett geändert

Ich stieg an einem sonnigen Dezembertag 2013 aus dem Auto, sah den Hang hinauf - und mir stockte der Atem: Wie schön das Haus war, wie einladend in der Wintersonne, unter steinalten Kastanien! Ich sah bereits meinen Namen auf dem Klingelschild stehen. Umgehend nahm ich Kontakt zum damaligen Eigentümer auf, kaufte und zog bereits Ende Februar 2014 mit meinem Hund Osca in die von Freunden und mir frisch renovierte Pächterwohnung ein.

Mein Leben änderte sich komplett - bald war ich wieder der lebensfrohe, humorvolle und zufriedene Mensch von einst. Ich arbeitete Tag und Nacht, putzte gefühlte 100 Klos und renovierte nächtelang unzählige Räume. Im Mai vergangenen Jahres hatte ich dann die ersten Mieter.

Ich genieße mein neues Leben

Ich betreibe das ehemalige Drei-Sterne-Hotel als Boardinghouse, sprich, ich vermiete kurz-, mittel- und langfristig unter anderem an Ingenieure von Audi, Mitarbeiter von Zulieferern und an Studenten. Im Juli war ich erstmals komplett ausgebucht. Nie zuvor hatte ich mehr Spaß an der Arbeit - und auch am Leben.

Ich begann, wieder die Welt zu bereisen, kaufte für Hund Osca und mich ein Motorrad-Gespann und einen historischen Traktor. Ich genieße mein neues Leben, die beeindruckende Landschaft hier im Altmühltal und engagiere mich - auch ein wenig aus Dankbarkeit - in meiner Freizeit ehrenamtlich in einer Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge.

Überleben

Wir veröffentlichen an dieser Stelle in loser Folge Gesprächsprotokolle unter dem Label "ÜberLeben". Sie handeln von Brüchen, Schicksalen, tiefen Erlebnissen. Menschen erzählen von einschneidenden Erlebnissen. Wieso brechen die einen zusammen, während andere mit schweren Problemen klarkommen? Wie geht Überlebenskunst? Alle Geschichten finden Sie hier. Wenn Sie selbst Ihre erzählen wollen, dann schreiben Sie eine E-Mail an: ueberleben@sz.de

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Das mache ich jetzt mal ein paar Jahre, schaue mich aber weiterhin um, nach Objekten und Ideen. Vor Kurzem war ich auf Mauritius, habe Kontakte geknüpft. Wer weiß - vielleicht ziehe ich eines Tages dorthin."

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Christian Maass, 51, betreibt die Hüttenschänke in Obereichstätt.

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