Jugendhilfe-Einrichtung in Hamburg:Haus der kranken Kinderseelen

Mattisburg Hamburg

Fortschrittliche Architektur, viel Platz zum Toben: Die Jugendhilfe-Einrichtung Mattisburg in Hamburg.

(Foto: Stiftung "Ein Platz für Kinder")

Wie geht man mit missbrauchten und schwer traumatisierten Minderjährigen um? Besuch in einer Einrichtung in Hamburg.

Reportage von Thomas Hahn, Hamburg

Auf den Asphalt vor der Mattisburg hat jemand mit dünnem Kreidestrich ein Herz gemalt. Es ist ein bisschen schief. Es sieht so aus, als sei ihm ein Sturm durch die Kammern gefahren und habe seine Form verweht. Es hätte mehr Geduld reinfließen müssen, man kann es nicht auf den ersten Blick schön finden. Aber natürlich ist es trotzdem ein Herz, das genauso ein Zeichen für die Liebe sein will wie alle anderen Herzen auch. Und wahrscheinlich ist gerade dieses traurige, in zittrigen Linien hingeworfene Herz das richtige Symbol für das, was die Mattisburg in Hamburg-Schnelsen sein will: ein Haus für traurige Kinder, denen schwere Stürme durch die Seele gefahren sind.

Das beste Kinderheim ist ein gesundes Elternhaus, aber die Wahrheit ist nun mal, dass nicht jedes Kind in so ein Elternhaus hineingeboren wird. Das Wohl der Kleinsten ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, und zwar eine, die den Staat vor ein Dilemma stellt: Ins Innerste einer Familie können die Jugendämter nicht schauen. Es kann ein tragischer Fehler sein, Eltern auf Verdacht ihr Kind zu entreißen. Noch schlimmer kann es ausgehen, wenn die Behörde nicht eingreift; immer wieder gibt es Fälle, in denen vorbelastete Eltern ihre Kinder zu Tode misshandelt haben.

Diskretion ist wichtig, sonst zerbricht das Vertrauen

Und die Hamburger Mattisburg, mit zehn Vollzeitstellen getragen von der sozial-diakonischen Großstadt-Mission Hamburg-Altona, ist das Beispiel für eine Einrichtung, die mittendrin steckt in diesem Ringen um die richtige Entscheidung. "Wir sind eine vollstationäre Jugendhilfe-Einrichtung, die einen diagnostischen Auftrag hat", sagt Teamleiter Thorsten Bierbaum. Anders ausgedrückt: In der Mattisburg versuchen Kinderschützer rund um die Uhr zu verstehen, was die vernachlässigten, vergewaltigten Kinder aus den anonymen Tiefen der Häusermeere durchgemacht haben, um dem Jugendamt später eine Empfehlung geben zu können, wo diese Kinder am besten aufgehoben sind.

Thorsten Bierbaum sitzt in seinem Büro im Erwachsenentrakt der Mattisburg. Johanna Ruoff ist auch da, Gründerin und Vorstand der Stiftung "Ein Platz für Kinder", die das Haus mit der D.-H.-Urban-Stiftung vor zwei Jahren für 1,2 Millionen Euro in den Schnelsener Vorstadtfrieden gesetzt hat. Und beiden merkt man an, dass sie hin- und hergerissen sind. Einerseits sind sie stolz auf ihre Einrichtung, die Maßstäbe setzt mit ihrer eleganten, zweckmäßigen Architektur. Sie wollen zeigen, was Spenden möglich gemacht haben. Aber sie haben auch die Sorge, zu viel preiszugeben. Diskretion ist wichtig, sonst zerbricht das Vertrauen der Eltern, die teilweise verantwortlich sind für die Probleme der Kinder und gerade deshalb wichtige Partner bei der Frage, was die Seelen der Kinder krank gemacht hat.

Zehn Kinder im Alter zwischen vier und zwölf leben in der Mattisburg. In Kindergärten oder Kitas sind sie meistens schon aufgefallen, weil sie besonders aggressiv, traurig, schlecht entwickelt waren. Viele haben danach eine ganze Karriere als Therapie-Kind durchgemacht, verschiedene Einrichtungen kennengelernt, Pflegefamilien, Psychopharmaka, ehe sie in die zedernholzverkleidete Mattisburg kamen für eine Art sechsmonatige Auszeit.

"Wenn die Kinder hierherkommen, gibt es ganz viele Fragezeichen", sagt Bierbaum, "warum ist das Kind, wie es ist?" Verhalten zu begreifen, ist vor allem die Aufgabe des Personals, nicht unbedingt, es zu verändern. Bierbaum nennt ein Beispiel: "Sexuell missbrauchte Kinder versuchen, einen Schutz aufzubauen, indem sie ihr Zimmer mit Kot oder Urin beschmieren, damit es für mögliche Schädiger unattraktiv wird, mit ihnen intim werden zu wollen. Wenn Sie als Betreuer das nicht verstehen, dann versuchen Sie, das abzustellen, ohne den Grund des Übels anzufassen."

Thorsten Bierbaum und Johanna Ruoff führen durchs Haus. Hinüber in den Kindertrakt, zu dem es einen eigenen Eingang gibt, damit sich nicht unkontrollierte Begegnungen ereignen, wenn Eltern oder andere Verwandte der Kinder in die Mattisburg kommen. Die Kinder sind noch in der Schule oder im Kindergarten, deshalb herrscht eine ungewohnte Ruhe in den lichten Räumen. Die Wohnküche geht zum Garten raus. Ein langer Esstisch steht im Raum und am Fenster ein großes Sofa, auf dem sich Pädagogen und Kinder zweimal täglich zu Gesprächen über Termine, Tagesabläufe, Gefühle treffen.

"In der Mattisburg vergeht kaum eine Viertelstunde, die nicht durchstrukturiert ist", sagt Bierbaum. Er steht jetzt an einer Magnetwand, auf der unter jedem Namen kleine Schilder mit Piktogrammen für den jeweiligen Tagesprogrammpunkt angebracht sind. Vom Aufstehen bis zum Vorlesen am Abend ist alles geplant. Sogar fürs Naschen gibt es eine feste Zeit. Raubt das den Kindern nicht die Freiheit zur Entfaltung? Nein, sagt Bierbaum. "Sie müssen sich vorstellen, die Kinder haben ganz viel Chaos im Kopf. Da müssen wir ganz viel Struktur vorgeben, damit sie sich orientieren können."

Alles hier muss etwas aushalten können

Im Obergeschoss sind die Schlafzimmer. Jedes mit einer anderen Farbe und verschieden hohen Fenstern versehen, damit jedes Kind das Gefühl hat, in einem besonderen Zimmer zu wohnen. Schränke und Türen sind fest montiert und aus besonders widerstandsfähigem Material. Sie müssen was aushalten können, wenn die Kinder ihre Krisen bekommen. Alles in der Mattisburg muss was aushalten können. Die Paneelen an den Wänden. Der PVC-Boden, der wie Holzparkett aussieht. Der gepolsterte Toberaum im Keller.

Auch die Erwachsenen hier müssen was aushalten. Das "Ausagieren", wie Bierbaum die Ausraster der Kinder nennt, kann gefährlich sein. Und ihre traumatischen Erlebnisse drücken sich manchmal in drastischen Alltagserfahrungen aus. Ruoff erzählt, dass sie im Hannoverschen Kinderhaus mal mit einem Mädchen am Küchentisch saß. Sie fragte das Kind arglos, ob es schon eine Freundin gefunden habe. Und mit irritierender Selbstverständlichkeit sagte die Sechsjährige: "Ja, aber die will mich immer poppen wie mein Vater."

Geschundene Seelen können anstrengend sein

Es gibt kein klassisches Mattisburg-Kind. Ein Vierjähriger kam her, der kein Wort sprach. Ein Zehnjähriger bewaffnete sich mit Küchenmessern. Andere haben depressive Züge. Aber alle zeigen Auffälligkeiten, die normal sind, wenn man ihre nicht normalen Geschichten bedenkt. "Da ist alles dabei, was sie sich denken und nicht denken können", sagt Bierbaum. Opfer von häuslicher Gewalt, Sex, Kinderpornografie. "Schwerstgeschädigte", sagt Ruoff.

Nach sechs Monaten und vielen gemeinsamen Erfahrungen schreiben die Mattisburg-Pädagogen für jedes Kind einen Abschlussbericht. Sie geben Antworten zu den Fragezeichen, zumindest ein paar, und dazu die Vorschläge, wie es weitergehen kann für das Kind. In einer weiteren Jugendhilfe-Einrichtung? In einer Pflegefamilie? Vielleicht sogar wieder bei den leiblichen Eltern? Und dann geht es ans Abschiednehmen. "Manche sind froh, wenn sie raus sind", sagt Bierbaum. Aber manche Abschiede sind auch traurig nach den vielen Wochen in der Mattisburg. "Manchen Kindern wachsen wir ans Herz, und sie uns auch", sagt Thorsten Bierbaum.

Geschundene Seelen können anstrengend sein. Aber Seelen sind sie eben doch.

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