Jeannette Hagen:"Uns wurde als Kindern die Angst vor Fremdem beigebracht"

Jeannette Hagen: Jeannette Hagen: Ich bin Idealistin. Ich glaube daran, dass der Mensch grundsätzlich ein liebendes Wesen ist.

Jeannette Hagen: Ich bin Idealistin. Ich glaube daran, dass der Mensch grundsätzlich ein liebendes Wesen ist.

(Foto: Maya Meiners)

Die Autorin Jeannette Hagen erklärt, warum so viele Deutsche sich nicht vom Leid von Flüchtlingen berühren lassen.

Interview von Lars Langenau

SZ: Frau Hagen, sind Sie eine Träumerin oder haben Sie einen Helferkomplex?

Hagen: Ich bin Idealistin. Ich glaube daran, dass der Mensch grundsätzlich ein liebendes Wesen ist. Aber aus verschiedenen Gründen sind viele nicht in der Lage, diese Liebe oder Empathie zu leben. Ich frage mich immer, was falsch daran sein soll zu helfen. Ich fahre an Brennpunkte dieser Welt, um das Leid dieser Menschen zu erfahren, es zu spüren. Wir können nicht ahnen, was in jemandem vorgeht, der gerade einen Familienangehörigen und seine Heimat verloren hat, wenn wir uns nicht direkt damit konfrontieren. Ich will helfen und verstehen.

Zur Person

Jeannette Hagen, 49, ist Coach und Autorin mehrerer Sachbücher. Zuletzt erschien "Die leblose Gesellschaft. Warum wir nicht mehr fühlen können" (Europa Verlag, 192 S.)

Sie setzen sich für Flüchtlinge ein, doch Kritiker werfen Ihnen vor, dass man nicht die halbe Welt hierherholen kann.

Ich denke, wir lügen uns in die Tasche, wenn wir glauben, dass wir folgenlos Staaten zerstören und ausbeuten können. Früher oder später begeben sich die Menschen auf den Weg. Zu Recht. Die meisten können sich eine Flucht nicht leisten, aber viele werden kommen. Sie werden sich nicht aufhalten lassen - jedenfalls nicht in der Form, wie es jetzt versucht wird. Warum sollten Menschen denn auch nicht woanders nach besseren Lebensbedingungen suchen? Verwundert es wirklich jemanden, dass sich viele Syrer nach fünf Kriegsjahren auf den Weg machen? Denken Sie daran, wie viele Millionen Europäer vor dem Zweiten Weltkrieg geflüchtet sind. Alles ist besser, als auf den Tod zu warten. Ich denke, Grenzen hochzuziehen funktioniert einfach nicht mehr. Wir müssen uns darauf einstellen, dass sich diese Welt verändern wird. Und wir müssen an probaten Lösungen arbeiten.

Sie schreiben, in Ihren Augen gibt es keine Flüchtlingskrise.

Ja, genauso sehe ich das. Die Menschen, die zu uns kommen, zeigen uns lediglich eine Krise, in der wir uns auch zuvor schon befanden. Sie spiegeln den Status quo einer ungerechten Weltordnung wieder. In den Flüchtlingsbooten, die in Lesbos landeten, saßen Menschen, die seit Jahren unterwegs waren. Familien aus dem hintersten Winkel von Nepal zum Beispiel. Menschen, die vor Umweltkatastrophen, vor Krieg, vor Armut geflohen sind. Was ist das für eine zynische Haltung, diesen Menschen die Tür vor der Nase zuzuschlagen? Wir alle tragen die Verantwortung für den Zustand dieser Erde. Wir können uns nicht mehr herausreden.

Sie behaupten zudem, dass manche mit Abwehr reagieren, weil ihnen die Flüchtlinge vor Augen führen, wie unfähig sie selbst sind, mutige Entscheidungen zu treffen.

Schauen Sie sich um: Wie viele Deutsche sind in ein Leben verstrickt, das sie nicht mögen. Sie lehnen ihren Job ab, die Regierung, den Nachbarn - und sehen für sich selbst keine Chance, etwas zu verändern. Plötzlich kommen Menschen, die alles aufgeben, um sich nach einem besseren Leben umzusehen. Das ist wie ein Schlag ins Gesicht. Wir können bei uns selbst beobachten, wie schnell Neid aufkommt, wenn ein anderer etwas erreicht, das wir uns nicht zutrauen. Studien belegen, dass wir, selbst wenn wir genügend Geld zur Verfügung hätten, fast alle in unserem Kontext verhaftet bleiben und nichts Neues wagen. Obwohl es Deutschland so gut wie noch nie geht, haben viele den Eindruck, daran nicht beteiligt zu sein - also auch keinen Beitrag dazu geleistet zu haben. Die Trennung verläuft nicht nur zwischen Arm und Reich, sondern auch zwischen Staat und Bürger. Darum ist es nicht verwunderlich, dass sich ein neuer Nationalismus herausbildet. Schließlich suchen die Menschen nach Halt, nach Identität. Außerdem sind wir Deutschen Meister darin, im Konjunktiv zu leben ...

Man müsste ...

Hätte, würde, könnte, doch nichts passiert. Wir haben verlernt, mutige Entscheidungen zu treffen. Manche leben gehorsam nach Regeln, die sie nie hinterfragt haben. Es geht nicht darum, jene zu verurteilen, die nicht handeln. Ich will zeigen, dass das Gründe hat und dass wir uns, wenn wir wirklich etwas verändern wollen, damit auseinandersetzen müssen: Warum fühlen sich viele abgehängt? Was haben Sprache und Erziehung mit unserem Verhalten gegenüber Flüchtlingen zu tun?

"Hass-Posts verändern nichts"

Sind Sie ein Gutmensch?

Manche schreiben mir, ich sei sogar eine "Gutmenschenschlampe". Ich bezweifle, dass Menschen, die so was schreiben, darin einen konkreten Sinn finden. Sondern dass sie damit von dem Hass auf sich selbst ablenken. Wir sollten uns vor Augen halten: Hätte es im Sommer vergangenen Jahres an den Bahnhöfen oder anderen Stellen nicht so viele Gutmenschen gegeben, die ohne zu zögern die Aufgaben des Staates übernahmen und den ankommenden Flüchtlingen halfen, die Situation wäre eskaliert. Ich frage mich, warum das niemand so deutlich sagt. Ich habe doch in Berlin gesehen, wie sich die Menschen am Lageso buchstäblich stapelten. Niemand hätte sie versorgt, wenn nicht Freiwillige vor Ort gewesen wären.

Was sind das für Menschen, die Sie ganz offen bei Facebook schmähen? Schreiten Sie dagegen auch ein?

Es sind vermutlich dieselben, die an anderen Stellen schreiben, dass man die Flüchtlinge ersaufen lassen oder Merkel aufhängen sollte. Ich habe mir die Demonstration von Pegida am 3. Oktober angesehen. Ich habe selten so viel Hass erlebt. Es war erschreckend, und in den sozialen Medien ist es nicht besser. Bei Facebook schaue ich mir das inzwischen nur noch kurz an und entferne diese Leute aus meinen Freundeslisten. Es ist weder meine Aufgabe, diese Menschen zu überzeugen noch zu therapieren.

Aber Sie lassen sich nicht mehr alles gefallen ...

Nein, manche zeige ich inzwischen auch an. Wenn mir jemand öffentlich wünscht, dass ich vergewaltigt werde, ist eindeutig eine Grenze überschritten. Dann nutze ich die rechtlichen Wege, die mir zustehen. Ich halte es auch für meine Pflicht, denn ich möchte nicht in einer Gesellschaft leben, in der ein solcher Umgang geduldet wird.

Warum berührt es uns so wenig, dass im Mittelmeer Tausende Menschen auf der Flucht ertrinken?

Wenn wir vor dem Fernseher sitzen oder etwas in der Zeitung lesen, erscheint uns das alles sehr weit weg, als ginge es uns nichts an. Würde neben Ihnen ein Mensch ertrinken, würden Sie ins Wasser springen und helfen. Deshalb gehen gegen TTIP auch mehrere Zehntausend auf die Straße, bei einer Demonstration gegen den Syrien-Krieg sind es allenfalls ein paar Hundert. Hinzu kommt, dass die meisten von uns gelernt haben, dass uns die Probleme der anderen nichts angehen. Also schauen wir weg.

Was man nicht kennt, macht Angst.

Das auch. Natürlich ist der Islam mit seinen Riten für viele befremdlich, aber gilt das nicht auch für eine Nonne, wenn wir keinen Bezug zu ihr haben? Da leben Frauen völlig abgeschirmt von der Welt in Klöstern und sind mit einer fiktiven Figur "verheiratet". Von außen betrachtet wirkt das nicht weniger abstrus. Viele vermischen auch die radikalen Auswüchse mit dem allgemeinen Glaubensbekenntnis des Islam. Das Problem ist, dass uns schon als Kindern die Angst vor dem Fremden beigebracht wurde. Wir sind unfassbar ängstlich geworden und dadurch permanent auf Sicherheit bedacht. In meiner Kindheit war ich von morgens bis abends draußen, meine Mutter wusste nicht, wo ich war; niemanden hat das geschert. Ich habe mich deshalb aber nicht weniger behütet gefühlt. Im Gegenteil, ich habe gespürt, dass man mir vertraut.

Was soll eine Demo in Berlin gegen den Bürgerkrieg in Syrien bringen?

Was hat den Krieg in Vietnam beendet? Wenn die Menschen wollen, dass sich etwas ändert, müssen sie sich dafür einsetzen. Facebook-Debatten vom Sofa aus bewirken nichts. Ein Hass-Post bewirkt nichts. Er macht das Leben und diese Welt nicht besser. Wir müssen dafür kämpfen, dass das Leben auf diesem Planeten nicht den Bach runtergeht. Der Krieg in Syrien ist nur ein Teilaspekt. Ich will nicht, dass Bomben Menschen zerfetzen, ich will, dass meine Kinder und ihre Kinder auf einer Erde leben, die sie ernährt, die nicht verdreckt ist, die friedlich ist. Dafür setze ich mich ein.

Sollte man den IS nicht militärisch bekämpfen?

Ich halte Gewalt nicht für die beste Lösung. Sie gebiert immer wieder Gewalt. Dass wir in Europa so lange in Frieden leben, grenzt fast an ein Wunder, und wir sehen gerade jetzt, wie fragil dieser Frieden ist. Auch der IS ist ein Produkt von Gewalt: Wenn man seine Familie und seine Heimat verliert, was soll einen Menschen noch daran hindern, sich Extremisten anzuschließen und Rache zu üben? Radikale Gruppierungen wird es geben, solange die Rahmenbedingungen dafür genährt werden. An diesem Punkt muss man ansetzen.

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Jeannette Hagen: "Die leblose Gesellschaft. Warum wir nicht mehr fühlen können."

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