Italien und sein großes Thema: das Essen:Eine köstliche Zukunft

Die Weltausstellung in Mailand widmet sich dem Thema Ernährung. Das gibt Anlass zum Nachdenken: Was ist aus der italienischen Küche geworden? Und wie führt man sie wieder alter Größe zu?

Von Thomas Steinfeld

Wenn Andrea Lorenzon, der Wirt eines Restaurants im venezianischen Stadtteil Castello, einen neuen Gast empfängt, schenkt er ihm ein Glas Prosecco ein. Dann klemmt er den Daumen unter einen der beiden gelben Gummizüge, die seine Hosen halten (er ist schlank wie eine Sardine), und erzählt dem Ankömmling, dies sei ein naturtrüber, in der Flasche gegorener Schaumwein, den sein Vater selber keltere. Andrea Lorenzon trägt diese Geschichte an jedem Tisch vor. Er berichtet auch von einem weißen Rind aus dem Piemont, aus dem sein Hackfleisch besteht, von seinem Radicchio Rosso, der aus dem nahegelegenen Treviso kommt und im Februar am besten ist, und von den cappelunghe, den Stabmuscheln, die aus der Lagune stammen.

Andrea Lorenzons Restaurant ist, an Venedigs Preisen gemessen, nicht teuer und so klein, dass nur sechs Tische Platz haben. An der Tür des Lokals klebt die rote Schnecke von "Slow Food". Glaubt man den Strategen, dann ist das die Zukunft der italienischen Küche: regional, kleinteilig, traditionsbewusst sowie langsam und sorgfältig zubereitet - entstanden aus wenn nicht verwandtschaftlichen, so doch wenigstens freundschaftlichen Verhältnissen.

Dass sich Produktqualität und Kleinteiligkeit auch im größeren Stil umsetzen lassen, versucht man derzeit auf der Weltausstellung Expo 2015 zu demonstrieren, die in der vergangenen Woche in Mailand eröffnet wurde. Ihr Thema ist die zukünftige Ernährung der Welt, weshalb es dort allerhand allegorische Gebilde zu sehen gibt. Und weshalb man dort die mögliche Vorreiterrolle der italienischen Küche subtil in den Vordergrund gerückt wissen möchte. Ihre Geschichte mag widersprüchlich und gerade von den Deutschen stark idealisiert (und auf zehn Sorten Pizza und Pasta reduziert) worden sein, ein italienischer Markenkern war sie schon früh, und diesen weiter auszubauen, bemüht man sich auch am Rande der Expo nach Kräften.

"Italy is Eataly" steht über den zwei Pavillons, die zur Speisung der Ausstellungsbesucher in der Mitte des Geländes gesetzt wurden. Bewirtschaftet werden sie von Oscar Farinetti, der Mann ist in Italien berühmt: Der Unternehmer aus Alba im Piemont hatte im Jahr 2004 in Turin einen Supermarkt namens "Eataly" gegründet, in dem es ausschließlich Slow Food zu kaufen gibt. Seitdem schuf das Unternehmen nicht nur 16 Filialen in Italien, sondern auch elf in Japan, zwei in den USA, und je eine in Dubai und Istanbul. Im Herbst soll eine Niederlassung in München eröffnen.

Die Hausfrau war einmal die wichtigste Botschafterin der jungen italienischen Nation

Wenige italienische Unternehmen sind derzeit so erfolgreich. Auf der Expo 2015 werden nun, so verspricht Oscar Farinetti, 120 italienische Köche jeweils für einen Monat die "größte Osteria, die sich menschlicher Geist (und Bauch) vorstellen kann", betreiben, mit den Gerichten, die zu ihrer jeweiligen Region gehören. 2,2 Millionen Portionen Pasta sollen in den Hallen serviert werden, in nur sechs Monaten.

Italien, suedliche Toskana

Die Welt zu Gast bei Freunden: Die kleine Osteria mit regionaler Karte mag ein Klischee sein, doch sie gilt als Ideal der italienischen Küchenkunst.

(Foto: Frank Heuer/laif)

Mit der Pasta aber verhält es sich ähnlich wie mit der italienischen Küche: Es gibt sie, vor allem im Ausland, wo sie neben der Pizza als Inbegriff italienischer Küchenkunst gilt, und doch gibt es sie nicht, weil man sie überall anders zubereitet. Die Gemeinsamkeiten zwischen Sizilien und dem Piemont sind klein, auch wenn die geografischen Grenzen zwischen den Benutzern von Olivenöl, Speck (lardo) und Butter durchlässiger geworden sind.

Eigentlich entstand die italienische Küche erst mit der italienischen Nation. Ihre Gründungsakte ist ein Kochbuch, das nicht nur zum Spiegel der neuen staatlichen Einheit, sondern auch zu dem ihres erfolgreichsten Propagandisten wurde: "La scienza in cucina e l'arte di mangiar bene" ("Die Wissenschaft in der Küche und die Kunst, gut zu essen") des Florentiner Bankiers und Literaturkritikers Pellegrino Artusi, erschienen im Jahr 1891. In der Folge wurde die italienische Hausfrau zur erfolgreichsten Agentin des Nationalstaats, unablässig bearbeitet von Rezeptempfehlungen, die bald von Lebensmittelkonzernen vertrieben wurden. Die wahre Ursache dieser Erhebung unzähliger Regionalküchen zur Gemeinsamkeit der cucina italiana aber ist die Industrialisierung Italiens, die Elektrifizierung des Kochens, die Ankunft des Kühlschranks, die Entstehung jener Konzerne. Ein großer Teil der regionalen Lebensmittel ging dabei verloren: Echte Mortadella kommt heute fast nur noch aus Bologna, kaum mehr aus Viterbo, und die Salami aus Eselsfleisch ist verschwunden.

Die Organisation Slow Food will nun, mit "Eataly" an der Spitze, diese Geschichte umkehren, will wieder stolz sein auf Italiens Küche. Und Oscar Farinetti hat sich zu diesem Zweck das hässliche Wort von der "Biodiversität" zu eigen gemacht.

Um das besser zu verstehen, muss man zurückgehen bis zu Ippolito Nievo. Seine "Bekenntnisse eines Italieners" entstanden 1857/58, es ist der wohl italienischste aller Romane zu Italiens Geschichte, gleich zu Beginn wird die Küche des Schlosses Fratta nördlich von Venedig geschildert. Die Küche ist der Ort, an dem die Bildungsgeschichte des Helden beginnt, in den 70er-Jahren des 18. Jahrhunderts: "Dort wirbelte der Rauch in dichten Schwaden, dort war ein ewiges Brodeln von Bohnen in ungeheuren Kesseln, dort saß im Kreis auf knarrenden und rauchgeschwärzten Bänken ein Hoher Rat aus ernsten, mürrischen und schläfrigen Gestalten."

Der Weg von dieser Küche ins eingangs erwähnte Restaurant Andrea Lorenzons ist weit. Doch sein Lokal ist eine Anverwandlung der Küche, wie sie einst im Schloss Fratta zu finden war, unter zeitgemäßen Bedingungen versteht sich. Und wenn der Koch dort von seinen Töpfen und Schneidebrettern aufschaut, lächelt er, als wisse er, dass unter seinen Händen alle "Biodiversität" zu köstlichem Kleingehackten wird.

Die Weltausstellung in Mailand ist dagegen eine nationale Anstrengung und ein Spielfeld für die Konkurrenz der Nationen. Oscar Farinetti beschreibt sie als große italienische Erzählung. Darin sei "Eataly" für das Essen und den Wein zuständig, die Universität von Pollonzo, die erste gastronomische Universität der Welt, für die Wissenschaft, und für die historischen Gemälde und Skulpturen schließlich habe Antonio Sgarbi zu sorgen, der große Springteufel des italienischen Kunstbetriebs.

An diesem Gedanken ist so viel richtig, wie sich Italiens Geltung im Ausland ja vor allem der Kunst und der Küche verdankt.

Daher werden im Rahmenprogramm der Expo 2015 in norditalienischen Städten lauter Ausstellungen gezeigt, die etwas mit Essen oder Trinken zu tun haben. In Brescia ist man dabei sehr direkt vorgegangen: "Das Essen in der Kunst. Hauptwerke der großen Meister vom 17. Jahrhundert bis zu Warhol" heißt die Schau, die sich tatsächlich durch die Speisekarte arbeitet, vom Gemüse über das Fleisch bis zum Dessert, vom barocken Stillleben mit Pfirsichen und Kürbis bis zur Suppendose. In dieser Menge und in dieser Konzentration bekommt die Schau, ob gewollt oder nicht, etwas Messianisches. Es verträgt sich mit dem Genuss so wenig wie der Gedanke, man habe im globalen Wettbewerb als die Nation des guten Essens und der schönen Kunst zu bestehen - während andere für Unterhaltungselektronik und wieder andere für schwere Waffen zuständig seien.

Italien und sein großes Thema: das Essen: La Mamma macht Pasta - das war natürlich immer schön. Schon lange erledigt diesen Job allerdings die Lebensmittelindustrie.

La Mamma macht Pasta - das war natürlich immer schön. Schon lange erledigt diesen Job allerdings die Lebensmittelindustrie.

(Foto: Ezio Vitale)

In der Villa Pisani indes, dem Palast eines venezianischen Dogen nahe Padua, ist eine Ausstellung historischer Fotografien zu sehen, die den italiani a tavola gewidmet ist und tatsächlich Italiener bei Tisch zeigt, meist von Amateurfotografen aufgenommen. Auf manchen Bildern ist viel Armut zu erkennen, und auf den Tischen befindet sich nicht mehr als ein Stück Brot, ein Käse und ein Krug Wein. Auf anderen werden Berge von Spaghetti aufgetürmt, den Oberkellner Alfredo mit gezwirbeltem Schnauzbart gibt es inklusive. Sichtbar aber ist auf den Bildern, wie die Freude am Essen die Menschen an die Tafel zieht.

Andere Fotos zeigen die Mahlzeit als reale Metapher, nicht nur für die Gemeinschaft, sondern auch als Lohn der Arbeit und als Anspruch auf ein sorgenfreies Leben. Und dann ist da ein Bild, das Sophia Loren und Vittorio de Sica im Jahr 1960 zeigt, wie sie voller Freude auf die Pizza zwischen ihnen schauen. Das Foto erzählt von der Aufhebung der Klassenunterschiede; es erinnert aber auch an die These der Küchenhistoriker Alberto Capatti und Massimo Montanari, das Innerste der kulinarischen Tradition Italiens bestehe im Ineinander von Völlerei und Kargheit, was nicht nur an der Pizza, sondern auch am Ideal der weiblichen Figur erkennbar sei, genauer: im Verhältnis von Brust und Taille.

In einer weiteren Ausstellung, im Palazzo della Gran Guardia in Verona, geht es um den Verkauf von Weinen der Region. Eine Etage darüber dann die Schau "Arte e vino" ("Kunst und Wein"), die interessanteste Ausstellung historischer Kunst im Beiprogramm der Expo. Denn sie lässt keinen Zweifel daran, wie zwiespältig ihr Gegenstand ist - dass der Wein zwar Glückseligkeit verspricht, dass diese aber, wenn überhaupt, so billig nicht zu haben ist. Und so gibt es die fröhlichen Einladungen zum Rausch zu sehen, gemalt etwa von Guido Reni, ebenso wie den elend betrunkenen Lot, der bald seine beiden Töchter schwängern wird (von Pietro Ricchi etwa), und eine Vielzahl von Gemälden, die sich irgendwo in der Mitte zwischen Glücksversprechen und Verzweiflung halten, im sicheren Wissen, dass in allen künstlichen Paradiesen eine tiefe Melancholie steckt.

Slow Food - das ist auch die Revolte der ländlichen Regionen gegen die Kälte der Großstadt

Auch die gegenwärtige Hoffnung auf das neue alte Schlaraffenland Italien entsprang dem Aufstand gegen die Künstlichkeit. Die Idee des Slow Food stammt aus den 80er-Jahren. Als Teil einer Bewegung, in der sich die große Revolte nach innen kehrte, geleitet von einer arkadischen Idee von Agrarsozialismus und Selbstversorgung. Von vornherein war sie ein Aufstand der Region und des darin angeblich enthaltenen wahren Lebens gegen die Metropolen, gegen Rom, Mailand oder Turin. Doch wirklich groß wurde die Idee erst nach der Jahrtausendwende, als deutlich war, dass Italien aus der Konkurrenz der großen europäischen Staaten nicht als Gewinner hervorgehen werde. Damals entstand auch die Verbindung zwischen Oscar Farinetti, dem erfolgreichen Unternehmer, und Carlo Petrini, dem Gründer von Slow Food.

Ohne inneren Widerspruch ist diese Verbindung nicht zu haben: Eine vorindustrielle, kleinteilige Produktionsweise soll über die entfaltete Warenwirtschaft triumphieren. Doch es gilt auch, dass der Geschmack zu den Dingen gehört, die nicht dem Fortschritt unterworfen sind. Und über ein paar Eigenheiten der italienischen Küche muss man hinwegsehen, wenn jene Verbindung lebendig werden soll: über die Rolle etwa, die das Militär und die "nationale Diät" vor allem des Ersten Weltkriegs in der Geschichte der italienischen Küche spielt. Unübersehbar gegenwärtig ist sie in der Hierarchie der eh meist männlichen Kellner, am Formalismus der Kleidung oder daran, dass die Chefs bis auf den heutigen Tag oft Bärte tragen, während die niederen Ränge glatt rasiert zum Dienst erscheinen.

Vielleicht muss Andrea Lorenzon auch deshalb nach dem Dessert einen Scherz machen. Er klemmt den Daumen unter den Hosenträger, streicht sich über den Bart und spricht den männlichen Gast, den er zudem gut kennt, plötzlich als "signorina" an. Auf dem Tisch stehen ein Schale Erdbeeren und ein Glas Moscato d'Asti.

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