It-Girl Sara Schätzl:"Ohne die Schwangerschaft würde ich nicht mehr leben"

SARA SCHÄTZL

Sara Schätzl: "Bulimie wurde zu meiner besten Freundin."

(Foto: www.fotomotor.de)

Sara Schätzl begann schon als junges Mädchen mit dem Zählen von Kalorien. Die Essstörung hielt sie über zwölf Jahre gefangen. Auch in ihrer Zeit als Glamourgirl auf den roten Teppichen von München, Berlin und Los Angeles. Inzwischen macht sie eine Therapie und bezeichnet sich als gesund. Dieses Gesprächsprotokoll ist der Auftakt zu einer Serie. In Zukunft werden wir unter der Überschrift "Über leben" Betroffene zu Wort kommen lassen, deren Leben aus den Fugen geriet.

Protokoll: Lars Langenau

"Ich bin jetzt 27 Jahre alt und litt unter Bulimie, seit ich 14 war. Heute lebe ich gemeinsam mit meinem Sohn, den ich allein erziehe, in Los Angeles. Eigentlich stamme ich aus Donauwörth, ging aber mit 16 nach München und wollte unbedingt jemand sein. Wie das aussehen sollte, wusste ich nicht wirklich. Ich wollte zu den coolen Kids gehören, dem ganzen Old-Money, das es in München gibt. Ich wollte, dass mich jeder kennt, und irgendwann war ich dann auch im VIP-Bereich mit Alkohol für X-tausend Euro auf dem Tisch, den tollsten Kleidern, den teuersten Handtaschen. Jeder wollte mein Freund sein, doch ich habe nichts gefühlt. Das Nachtleben war meine Zufluchtsstätte mit sehr simplen Regeln, die mich in jedem Club zum beliebtesten Gast machten. Es ist immer die gleiche Oberflächlichkeit und der gleiche Small Talk, keiner fragt dich wirklich etwas. Wie denn auch bei dieser Lautstärke? Diese Barbie-Nummer machte mir am Abend zwei, drei Stunden Spaß, dann wollte ich die Farbe aus meinem Gesicht waschen.

Schlagzeilen zu machen, ist nicht schwer. Ich wusste genau, wann ich was zu sagen hatte, damit es gedruckt wird, damit jemand lacht, damit mich jemand mag, damit man mich mit meiner Präsenz auch in Ruhe lässt. Ich habe erst für mich und dann für die Medien eine Kunstfigur geschaffen, die mich geschützt hat. Die war alles, was ich nicht sein konnte. Die war sehr laut, unantastbar, gut gelaunt, immer witzig. Sie war meine hohe Mauer zwischen mir und der Welt. Sie beschützte mich zuverlässig, aber sie isolierte mich auch. Und hinter der Mauer gab es nur mich und die Essstörung. Mein sicherster Ort war die Couch mit mir und Essen, zugesperrter Tür und Handy auf lautlos. Der einzige Platz, an dem ich mich als ich selbst gefühlt habe.

Serie "ÜberLeben"

Wir veröffentlichen an dieser Stelle in loser Folge Gesprächsprotokolle unter dem Label "ÜberLeben". Sie handeln von Brüchen, Schicksalen, tiefen Erlbenissen. Menschen erzählen von einschneidenden Erlebnissen - vom Nachbarn über Obdachlose bis zu Prominenten. Warum sind wir das, was wir sind? Wieso brechen die einen zusammen, während andere mit schweren Problemen klarkommen? Wie geht Überlebenskunst? Wenn Sie selbst ihre Geschichte erzählen wollen, dann schreiben Sie eine E-Mail an: ueberleben@sz.de

Bulimie wurde zu meiner besten Freundin, meine selbst gewählte Droge. Ich hatte diese Krankheit zwölf Jahre, das ist keine Phase. Jetzt habe ich ein Buch darüber geschrieben. Geschrieben habe ich es für mich. Veröffentlicht habe ich es für andere. Ich habe damit während meiner Therapie gegen Essstörung angefangen, als ich noch krank genug war, ein süchtiges Gehirn zu haben, aber schon so weit, dass ich erkannt habe, dass ich krank bin. Ich wollte, dass man sieht, wie ein krankes Hirn funktioniert. Es ist ein Buch von jemanden, der sich selbst nicht geliebt hat und deshalb versucht mit der Anerkennung von Außen zu füllen, was man doch nur in sich finden kann. Eine ewige Trial-and-Error-Geschichte voller Enttäuschungen.

Jede Mangelernährung führt irgendwann zu Obsessionen mit Essen. Der Großteil der Leute, die jemals eine Diät beginnen, ist nachher schwerer als zuvor. Ich verbrachte Tage mit Burgern, Pizza, Chips, Unmengen Eis, Gummibärchen und Keksen auf dem Sofa. Mein Leben war wie folgt: Ich esse und dann kotze ich. Punkt. Doch nach 11 Jahren mit meiner besten Freundin Bulimie hatten wir meinem Körper zu viel zugemutet. Mehrfach wurde ich ohnmächtig ins Krankenhaus eingeliefert. Verdacht auf Schlaganfall, Herzinfarkt. Mit Mitte 20! Doch das hätte mich alles nicht beeindruckt, wenn nicht jemand gesagt hätte: Wir nehmen Dir Dein Kind weg. Ohne die Schwangerschaft würde ich wohl nicht mehr leben. Das war kein Leben so. Du denkst 80 Prozent des Lebens über Essen nach, zehn Prozent darüber, was andere von Dir denken, und weitere zehn Prozent, dich selbst total unmöglich zu finden.

Bloß nicht hinter die Fassade blicken lassen

Ich wollte nicht hinter meine Fassade blicken lassen. Ich hatte das Gefühl, dass ich nicht liebenswert bin. Hatte Angst, dass jemand das kleine Häufchen Elend hinter der Fassade sieht. Wenn man keine Selbstliebe und Respekt vor sich selbst hat, dann zieht man auch Leute in sein Leben, die darauf keinen Wert legen und Dich schlecht behandeln. Die Männer, die ich geliebt habe, waren mein absoluter Lebensmittelpunkt. Ich hätte alles für sie getan. Und das wussten die auch.

Der Vater meines Sohnes hat uns kurz nach der Geburt verlassen. Das war hart, da zerplatzte ein Lebenstraum. Entgegen meinem Image hatte ich immer nur lange Beziehungen, keine Affären. Ich mag den Gedanken nicht, dass mich jemand anfasst, der mich nicht liebt. Selbst flüchtige Berührungen von Fremden lassen mich noch heute zusammenzucken. Ich habe mich in Beziehungen schon immer stark mit dem Anderen identifiziert. Ich hatte gehofft, dass ich im Anderen endlich festen Boden im Leben finden würde. Ich war dann eben jemandes Freundin oder Frau. Endlich war ich etwas - denn Ich alleine war nichts. Meine Partner waren mein ganzes Leben. Trennungen fühlten sich an wie 'Apokalypse now'. Und am extremsten war das natürlich, als ich mit einem Neugeborenen in den Trümmern meiner eindimensionalen Welt stand.

Mir wurde klar, dass ich nicht wusste, wer ich bin. Ich kannte mich nicht - und das, was ich an mir kannte, das mochte ich nicht. Wer war ich eigentlich - bevor ich anfing, mich zu erfinden?

Ich hatte mich in diesem schnellen Leben, all den Essanfällen gegen die Leere und ohne Fixstern in den zehn Jahren zuvor verloren. Ich habe sechs, sieben Monate jeden Tag geweint. Irgendwann habe ich meinen Sohn angeschaut und mir gedacht, Du hast ja keine Ahnung, in welches Wrack du hier geboren bist. Das Leben kann einen ziemlich alt machen. Dann habe ich gedacht: Wenn ich alles für ihn bin, dann muss sich das ändern.

Bulimie - Hier finden Sie Hilfe

Bulimia nervosa, auch Ess-Brech-Sucht genannt, ist eine Essstörung, bei der die Betroffenen ein unkontrolliertes Verlangen nach Essen haben und anschließend gewichtsreduzierende Maßnahmen durchführen - dazu gehören Erbrechen oder das Schlucken abführender Präparate. Überwiegend wird diese Erkrankung bei Frauen diagnostiziert. Langfristige Folgen sind u.a. Herzrhythmusstörungen, Muskelkrämpfe, Muskelschwäche, Kreislaufstörungen, Nierenschädigungen, Wassereinlagerungen. Unmittelbare Folgen des häufigen Erbrechens sind u.a. Zahnschäden, Verätzung des Rachens und der Speiseröhre, Entzündung der Bauchspeicheldrüse, Erschlaffung des Mageneingangs. Ein Ausweg aus der Sucht ist oft nur mit Hilfe einer Psychotherapie möglich. Hilfe finden Betroffene unter anderem bei ANAD e.V., Telefon: 089/219973-99.

Was hätte ich meinem Kind zu bieten gehabt? Ich habe mich selbst gehasst, war depressiv und hatte Angst vor der Welt. Ich hing nicht am Leben. Mein Sohn hätte, wäre ich so geblieben, doch meine Angst vor dem Leben übernommen.

Ich hatte schwere Panikattacken bis zur Ohnmacht und lebte weiter exzessiv mit meiner Ess-Brech-Sucht, die mich auch körperlich zu einem Wrack machte. Als ich mal wieder im Krankenhaus war, sagte man mir, dass ich als alleinerziehende Mutter das Sorgerecht verlieren würde, wenn ich so weitermache. Das änderte alles. Ich ging in Therapie.

Ich habe seine Mutter gerettet - erstmal nicht mich. Sondern seine Mama.

Ich zog mit meinem acht Monate alten Sohn, vier Koffern und selbst völlig im Arsch nach Los Angeles. Ich hatte keine Aufenthaltserlaubnis, keinen Job. Doch ich musste dorthin gehen, wo ich eine persönliche Stunde Null hatte, und dort habe ich mir Baustein für Baustein ein neues Fundament aufgebaut. Es war kein Bruch von heute auf morgen, sondern ein Prozess über ein halbes Jahr. Die Leute warten immer auf den Augenblick, den Bruch, das Ereignis, wo sich alles für sie ändert, doch das ist falsch. Man trifft viele kleine Entscheidungen und erlangt Erkenntnisse, erst dann wird es zu einer großen Sache. Der Auftrag war klar: Ich musste mich selbst finden, mich dem Leben stellen und ein Zuhause aus Stabilität und Liebe für mein Kind schaffen. Es durfte kein Weglaufen sein, es musste ein Weiterlaufen sein.

Das Letzte, was ich für ihn wollte, war so zu sein wie ich. Ich will, dass mein Sohn in einer wundervollen Welt aufwächst, dass er sein darf, was und wie er sein will. Ich bin in einer Kleinstadt aufgewachsen und da musst Du genauso sein, wie alle anderen sind. Lehrer, Filialleiter eine Bank, geregelte Jobs und verheiratet mit dem Menschen, den sie schon aus der Grundschulzeit kennen. Das ist okay. Ich beneide das. Das ist deren Welt, die ist nicht windig. Nur für mich hat das nie gepasst. Ich war immer anders. Aber man hat mir erzählt: Anders sein ist falsch. Deshalb kann mein Sohn Bankdirektor oder Rockstar werden. Beides ist richtig, beides ist gut. Doch dazu musste ich an einen Ort, wo mich niemand kennt. Ich musst mich selbst und das Leben neu kennenlernen.

Endlich gut genug

In den USA nehmen die mich ernst, ich darf drehen, man castet mich. In meinem Schauspiel schwingt jede Narbe meines Lebens mit und das mögen die Amis an mir. Kann auch sein, dass dieses Buch das letzte ist, was man von mir in Deutschland gehört hat.

Seit drei Jahren habe ich jetzt keinen Partner mehr. Bewusst, denn ich will niemanden, bevor ich nicht selbst Glück in mir gefunden habe. Das kann mir dann auch niemand wegnehmen - und das ist das Fundament, auf dem ich heute stehe. Ich bin gespannt, wie es sein wird, sich zum ersten Mal selbst zu lieben und jemand anderen zu lieben. Und ich kann es auch kaum erwarten, zu wissen, wer das ist.

Wenn es mir nicht gut geht, gehe ich nicht mehr raus und suche etwas, das mich glücklich machen könnte, sondern ich meditiere und suche das Glück in mir. Ich schreibe jeden Abend eine Liste mit Dingen, für die ich dankbar bin. Ich baue meine Schlösser jetzt innen, nicht mehr außen wie früher. Je mehr ich mich liebe, desto weniger kann ich diesen Menschen misshandeln und ihm was schlechtes tun. Das ist der große Unterschied zu früher.

Es ist die Entwicklung zu jemandem, der morgens aufwacht und sagt: Es ist alles okay, ich gebe mein Bestes, egal was ich mache. Und wenn das nicht reicht, dann liegt das nicht in meiner Hand. Dieses Wissen entspannt mich, weil ich diesen Zustand gar nicht kannte. Ich dachte immer: So bin ich halt, ich bin jemand, der sich nicht liebt, der immer etwas an sich auszusetzen hat. Als wäre es in meinem Genpool eingepflanzt, nur weil ich mich nicht erinnern kann, jemals anders gewesen zu sein. Die Erkenntnis, dass man darin nicht gefangen ist, dass das nicht so sein muss, war so bahnbrechend für mich, dass ich möchte, dass das jeder weiß. Jeder, der aufwacht und denkt, 'ich bin nicht in Ordnung und ich will dass dieser und jener mich toll findet', dem muss ich heute sagen: Das ist eine Farce, es füllt das Leben nicht. Jeder Tag, an dem Du aufwachst und dich nicht schätzt in deiner Einzigartigkeit, ist verloren. Nicht perfekt sein, seine Macken haben und dazu stehen, das ist es. Und zu denken: Wenn Du Dein Bestes gibst, dann ist das gut genug.

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Sara Schätzl hat ein Buch über ihre Essstörung geschrieben: "Hungriges Herz. Mein Leben mit der Bulimie", Schwarzkopf & Schwarzkopf", 275 Seiten, 9,99 EUR

Überleben

Wir veröffentlichen an dieser Stelle in loser Folge Gesprächsprotokolle unter dem Label "ÜberLeben". Sie handeln von Brüchen, Schicksalen, tiefen Erlebnissen. Menschen erzählen von einschneidenden Erlebnissen. Wieso brechen die einen zusammen, während andere mit schweren Problemen klarkommen? Wie geht Überlebenskunst? Alle Geschichten finden Sie hier. Wenn Sie selbst Ihre erzählen wollen, dann schreiben Sie eine E-Mail an: ueberleben@sz.de

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