Interview zu Paarbeziehungen in der Krise:Auswege aus der Gewaltspirale

Folgen von Stress (Symbolbild)

Kaum Beratungsangebote für Frauen, die in einer Beziehung Gewalt ausüben.

(Foto: Peter Steffen/dpa)

Eine Frau, die von ihrem Mann geschlagen wird, geht vielleicht ins Frauenhaus. Aber was machen Paare, in denen die Frau nicht nur Opfer, sondern auch Täterin ist? Für sie gibt es bislang kaum Hilfsangebote. Heike Flohr und Marcel Kruse von der Caritas in Berlin haben ein Beratungskonzept entwickelt.

Von Oliver Klasen

Wenn es um häusliche Gewalt geht, dann sind in vielen Fällen Männer die Täter und Frauen die Opfer. Doch Paare, die beidseitig Gewalt ausüben, finden unter den gängigen Betreuungsangeboten oft keine geeignete Anlaufstelle. Deshalb haben Sozialpädagogin Heike Flohr und Diplom-Psychologe Marcel Kruse vor zwei Jahren bei der Caritas in Berlin ein Beratungskonzept etabliert, das sich an Paare richtet, die gemeinsam daran arbeiten wollen, dass Streit nicht mehr in Gewalt ausartet. Ihr Projekt ist bundesweit einmalig, allerdings ist derzeit nicht sicher, ob es in Zukunft weiter finanziert werden kann.

SZ.de: Frau Flohr, Herr Kruse, Sie beide beraten Paare, in deren Beziehung es immer wieder zu Gewaltausbrüchen kommt. Das Motto Ihres Beratungskonzeptes lautet: "Jetzt mal anders. Ohne Gewalt klarkommen". Was ist denn so anders daran?

Heike Flohr: Anders ist, dass wir beide Partner einladen. Bei uns geht es um Paare, in denen beide erkannt haben, dass es ein Gewaltproblem gibt. Beide sind motiviert, daran etwas zu ändern und ihre Beziehung wieder gewaltfrei zu gestalten. Vielen Beratungsangeboten liegt eine implizite Trennung in Täter und Opfer zugrunde. Darauf verzichten wir bewusst.

Aber ist es nicht häufig so, dass ein Partner, in den allermeisten Fällen der Mann, Gewalt ausübt und der Gegenpart, in den allermeisten Fällen die Frau, das Opfer ist?

Marcel Kruse: Natürlich gibt es das oft. Patriarchale Gewalt nennen Psychologen das, weil sie fast nur von Männern in heterosexuellen Beziehungen ausgeht. Sie greifen ihre Partnerin an, weil sie sie als Person unterdrücken und Macht über sie ausüben wollen. Das Neue bei unserem Ansatz ist, dass wir uns auf eine andere Gruppe von Betroffenen konzentrieren. In ihren Beziehungen bricht die häusliche Gewalt plötzlich und spontan aus, etwa wenn ein Streit eskaliert, und beide sind daran beteiligt. Situative Paargewalt wird dieses Phänomen in der wissenschaftlichen Literatur genannt.

Sind in diesen Fällen die Frauen wirklich genauso gewalttätig wie die Männer?

Flohr: Nicht immer geht die Gewalt zu gleichen Teilen von beiden Partnern aus. Aber bei etwa 30 Prozent dieser Paare ist es so. Dort agiert die Frau auch körperlich oft sehr gewalttätig, mit Schlägen oder Tritten zum Beispiel. Manchmal findet sich auch das Muster, dass der Mann seinen Körper einsetzt und die Frau mit verbaler Gewalt antwortet oder persönliche Gegenstände ihres Partners zerstört.

Kruse: Meistens handelt es sich bei der situativen Paargewalt um mittelschwere Fälle, eher nicht so sehr um besonders heftige Gewaltexzesse. Die finden sich eher bei der patriarchalen Gewalt, Experten sprechen auch von "Misshandlungsbeziehungen".

Wie häufig kommt diese situative Gewalt vor?

Kruse: Die allgemein verbreitete Annahme ist, dass diese Fälle verglichen mit den krassen Misshandlungsfällen eher in der Unterzahl sind. Aber dieser Eindruck täuscht. Leider gibt es in Deutschland bisher kaum Forschungen dazu. Wir haben Zahlen aus den USA von 2005, die nahelegen, dass 65 Prozent aller Menschen, die von häuslicher Gewalt betroffen sind, in die Gruppe der situativen Gewalt fallen.

Und vor allem um die kümmern sie sich?

Kruse: Ja, das ist unsere Zielgruppe. Zu uns kommen beispielsweise Frauen, die in ihrer Beziehung Gewalt ausüben. Einige kommen erst alleine und dann holen wir den Partner später dazu. Manchmal meldet sich auch der Mann zuerst, aber meistens kommt das Paar gemeinsam - und beide wollen wieder etwas aus ihrer Partnerschaft machen.

Flohr: Das ist elementar für unseren Ansatz. Dass beide an einer Verbesserung interessiert sind. Wenn eine Frau patriarchaler Gewalt ausgesetzt ist, dann wird sie von ihrem Mann systematisch unterdrückt und gedemütigt. Das ist keine Basis, um ein Beratungsgespräch zu führen. Eine solche Frau braucht andere Angebote. Frauenhäuser, Telefon-Hotlines, Frauenberatungsstellen. Da geht es in erster Linie um den Schutz des Opfers und das ist auch richtig so.

Kruse: Allerdings eignen sich die bestehenden Angebote oft nicht für diejenigen, die gemeinsam an dem Gewaltproblem in ihrer Beziehung arbeiten wollen.

Warum nicht?

Kruse: Uns wurde häufig von Frauen berichtet, die in eine Beratungsstelle kamen und sagten: In meiner Beziehung gibt es Gewalt und ich sehe mich als Teil dieser Gewaltspirale. Häufig wurde diese Perspektive von der Beraterin vor Ort aber nicht ernstgenommen. Die Frau wurde in die Opfer-Schublade gesteckt, hat sich dort aber nicht wiedergefunden. Die Folge war, dass sie die Beratung wieder abgebrochen hat.

Flohr: Ich habe lange in einem Frauenhaus gearbeitet. Wir hatten eine kleine Arbeitsgruppe, die sich mit dem Phänomen der situativen Gewalt beschäftigte. Damals wurde uns klar, welch riesiger Bedarf an Beratung da besteht und wir entwickelten die Idee zu der Beratungsstelle.

Und wenn ein Paar zu Ihnen kommt, welche Angebote kann es wahrnehmen?

Flohr: Bei vielen der Paare, die zu uns kommen, droht die Lage ständig zu eskalieren. Dauernd steht die Frage im Raum: Wann flippt der andere wieder aus? Beide fühlen sich nicht mehr sicher, wenn sie gemeinsam in einem Raum sind. Bevor wir da überhaupt mit der Beratung anfangen können, müssen wir ein Klima schaffen, in dem sich die Partner gegenseitig nicht mehr als Bedrohung empfinden. Deshalb führen wir meist erst einmal mit beiden getrennt Gespräche, bevor wir das Paar wieder zusammen an einen Tisch setzen.

Kruse: Der Fokus liegt danach aber auf der Paarberatung. Das Ganze funktioniert nach dem sogenannten lösungsfokussierten Ansatz. Vereinfacht ausgedrückt suchen wir mit den Klienten die Antwort auf die Frage: Was ist Ihr individueller Vorschlag, um die Situation ein kleines bisschen besser zu machen?

Flohr: Das Wesentliche ist eine absolut wertneutrale Atmosphäre. Wir nehmen die Perspektiven aller Beteiligten erst einmal so an wie sie sind. Jeder muss seine Sicht der Dinge schildern können, ohne als Täter verurteilt zu werden. Vieles wird dann vom Paar selbst erarbeitet, wir als Berater intervenieren gar nicht so stark. Die einzige Idee, die wir von außen hineinbringen, ist der Time out.

Time out?

Flohr: Time out heißt, dass das Paar gemeinsam eine Strategie entwickelt, wie sich eine kritische Situation unterbrechen lässt. Es wird ein Handzeichen vereinbart, das den Time Out signalisiert. Und dann geht es um ganz profane Dinge: Wer geht wo hin? Wer bleibt bei den Kindern? Wie lange geht man auseinander? Und wenn man wieder zusammentrifft, beredet man die Situation sofort oder diskutiert man erst später?

Also eine Art Fahrplan zur Deeskalation, an den ich mich im Ernstfall halten kann?

Flohr: Genau. Und dieser Fahrplan ist sehr genau auf das einzelne Paar abgestimmt. Er ist sogar auf die Wohnung angepasst, sodass klar ist, wer sich wann in welchen Raum zurückziehen kann.

Und wenn alles nicht nützt und das Paar sich trennt?

Kruse: Das spricht nicht gegen unser Modell. Tatsächlich ist der Anteil der Paare recht hoch, die sich trennen, nachdem sie bei uns waren. Das könnte man als negatives Zeichen lesen, aber manchmal ist eine solche Beratung ein Segen für Paare, die jahrelang in einer Ambivalenz stecken und sich nicht für oder gegen die Beziehung entscheiden können. Dann kriegen wir die Rückmeldung: Gut, dass wir uns getrennt haben. Das war die einzig richtige Lösung.

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