Interview zu Diabetes:"Wir haben bald 20 Millionen Diabetiker in Deutschland!"

Hellmut Mehnert, international bekannte Diabetes-Koryphäe, warnt: Wenn sich das Bewusstsein der Menschen für ihren Körper und ihre Ernährung nicht ändert, ist bald jeder vierte Deutsche zuckerkrank.

Birgit Lutz-Temsch

Hellmut Mehnert, Jahrgang 1927, hat jahrelang Herausragendes in der Diabetesforschung geleistet. Im Rahmen seiner Chefarzt-Tätigkeit am Krankenhaus München-Schwabing leitete er bereits 1967 die weltweit größte Diabetes-Früherfassungsaktion und installierte das erste und größte Diabetiker-Schulungszentrum Deutschlands. Er begründete den interdisziplinären Schwerpunkt zur Betreuung diabetischer Schwangerer. Mehnert war ständiger Vertreter der Bundesrepublik Deutschland im Diabetes-Experten-Komitee der Weltgesundheitsorganisation und Präsident des Kongresses der Europäischen Diabetes-Gesellschaft. Er war der erste Arzt, der Thomas Fuchsbergers Diabetes einstellte. Zu dem jetzt veröffentlichten Motivationsbuch Fuchsbergers hat er ein medizinisches Nachwort geliefert.

Interview zu Diabetes: Hellmut Mehnert - seit 50 Jahren Diabetologe.

Hellmut Mehnert - seit 50 Jahren Diabetologe.

(Foto: Foto: Heddergott)

sueddeutsche.de: Zuckerkranke sind dick, ernähren sich ungesund und sind irgendwie selbst schuld - so lauten Vorurteile gegenüber Diabetikern. Stimmt das?

Hellmut Mehnert: Nicht immer. Auch dünne, sportliche Menschen können an Diabetes erkranken - das sieht man ja an Thomas Fuchsberger. Man muss unterscheiden zwischen Diabetes Typ I und Typ II. Bei Typ I haben sich die Hinweise verstärkt, dass das körpereigene Abwehrsystem eine entscheidende Rolle spielt. Antikörper zerstören körpereigenes Gewebe - nämlich die insulinproduzierenden Inselzellen in der Bauchspeicheldrüse. Insulin aber ist wichtig für den Zuckerabbau. Wenn der Körper keins mehr produziert, muss man spritzen - je nachdem, was man isst. Warum das geschieht, ist nicht klar, aber es hängt wohl mit erblichen Faktoren zusammen. Bei weitem größer aber ist die Erblichkeit von Typ-II-Diabetes.

sueddeutsche.de: Was passiert bei Typ II?

Mehnert: Bei Typ II sind es zumeist äußere Faktoren, die entscheidend zum Ausbruch beitragen: Hier dominieren Übergewicht und Bewegungsmangel. 95 Prozent aller Diabetiker sind Typ-II-Diabetiker!

sueddeutsche.de: Wie kann man die Zahl der Diabetes-Neuerkrankungen senken?

Mehnert: Es sind viel mehr Präventionsmaßnahmen nötig - man müsste sich besser um diejenigen kümmern, die möglicherweise mal einen Diabetes entwickeln. Also Kinder aus Familien, in denen Diabetes vorkam. Oder stark übergewichtige Menschen, die bereits eine familiäre Diabetes-Belastung haben. Dort könnte man durch rechtzeitige Beratung und Diagnose viel tun. Es gibt zwar bereits den Gesundheits-Check-up für über 35-Jährige - darin wird auch der Blutzucker kontrolliert. Aber das sollte man noch verstärken und Früherfassungsaktionen machen. Da liegt viel im Argen.

sueddeutsche.de: Das könnte im Rahmen von Reihenuntersuchungen in der Schule geschehen...

Mehnert: .... die ich sehr befürworten würde. Am Schwabinger Krankenhaus haben wir schon 1967 die weltweit größte Früherkennungsuntersuchung gemacht, mit einer Beteiligung von 72 Prozent der Münchner Bevölkerung. Dabei haben wir 7000 Diabetiker entdeckt. Ich nehme an, heute würde man nicht so viele neue Fälle diagnostizieren, weil die ärztliche Versorgung besser ist. Doch man würde immerhin noch 2000 bis 3000 Diabetiker herausfischen können, und durch die frühe Erkennung wesentlich dazu beitragen, deren Risiko schwerer Spätfolgen zu minimieren.

sueddeutsche.de: Wie kommt es zu diesen Spätfolgen?

Mehnert: Der hohe Zuckergehalt im Blut greift die Gefäße an. Es kann zu Herzinfarkt, Nierenschädigungen, Blindheit kommen. Deswegen wird bei Diabetes-Kranken immer auch ein Langzeitwert gemessen. Der sollte unter 7 liegen. Der Patient riskiert damit zwar manchmal, dass er in einen Unterzuckerzustand rutscht. Auf lange Sicht ist das aber besser, als zu hohe Zuckerwerte zu haben. Welch schwere Folgen es hat, wenn man diesen Wert nicht kontrolliert und einhält, sieht man daran, dass die Hälfte der Dialysepatienten in Deutschland Diabetiker sind - aber das geht in der Öffentlichkeit völlig unter.

sueddeutsche.de: Wie steht es um die Aufklärung?

Mehnert: Die sollte schon im Kindergarten oder wenigstens in der Schule beginnen. Wir müssen dem Übergewicht der Kinder entgegenarbeiten. Wir haben viel zu viele dicke Kinder. Es fehlt an vernünftiger Ernährung - hier ist nicht nur das Elternhaus gefragt, sondern auch der Schulkiosk: Dort sollte nicht nur das verkauft werden, womit sich der Haumseister am meisten dazu verdienen kann. Und eminent wichtig wäre die Förderung des Sports.

sueddeutsche.de: Warum ist eine frühzeitige Aufklärung über Diabetes so wichtig?

Mehnert: Wenn Sie die bedauernswerten, dicken, bewegungsarmen Kinder vor dem Fernseher und Computer sitzen sehen, dann wissen Sie, dass da etwas geschehen muss. Bewegung, Therapie, Prävention ist genauso wichtig wie die Steuerung der Ernährung. Diabetes ist zu einer Volkskrankheit geworden. Wir haben in Deutschland bereits sechs bis acht Millionen Diabetiker, die bekannt sind, weitere ein bis zwei Millionen, die noch nichts von ihrer Diagnose wissen, und zehn Millionen, die einen Prädiabetes haben, ein Vorstadium. Wenn Sie das addieren, kommen Sie auf 20 Millionen. Das ist ein Viertel der Deutschen.

sueddeutsche.de: Sind Diabetiker ärztlich gut versorgt, oder müsste sich auch hier im Gesundheitssystem noch etwas tun?

Mehnert: Es fehlt an Schulungen. Diabetiker werden bereits sehr erfolgreich geschult, wie sie mit der Krankheit umgehen müssen - das ist ja ein komplexes Thema. Eine Schulung allein reicht aber nicht - oft sind Zweit- oder Drittschulungen nötig, doch die werden von vielen Kassen nicht bezahlt. Gerade nach ein, zwei Jahren lässt die Motivation vieler Patienten nach. Es wäre dann wichtig, diese Menschen wieder zu motivieren. Ihnen aufzuzeigen, dass sie an Lebensqualität nur gewinnen können.

Und dann dauert die Zulassung von Medikamenten zu lang, Die Vorlaufzeiten sind der Tod jeder Innovation. Hier müsste man mehr tun, auch mit Hilfe breit angelegter Studien, die nicht nur von der Pharmaindustrie, sondern vor allem vom Staat gefördert werden.

sueddeutsche.de: Herr Fuchsberger ist ein sehr positiver Mensch und sagt, man kann mit Diabetes alles machen. Können Sie diese Aussage als Arzt bestätigen?

Mehnert: Das ist tatsächlich so. Es gibt einzelne Berufe, die kann der Insulinspritzende nicht ausüben - Pilot zum Beispiel. Aber das sind wenige! Der gut geschulte, gut eingestellte, kooperative Patient kann sonst normal leben: Lange Reisen, Sport treiben, Familie gründen - all das geht, wenn die Leute mitmachen und die Ärzte was vom Diabetes verstehen. Und das ist viel besser geworden in Deutschland. Ich weiß das - schließlich bin ich seit 50 Jahren Diabetologe!

sueddeutsche.de: Wie sind Sie Diabetologe geworden?

Mehnert: Durch Zufall! Mein Oberarzt an der Uniklinik hat mich mal für 14 Tage in die Diabetiker-Ambulanz geschickt. Das wollte ich nicht. Das ist total langweilig, habe ich gemeckert. Und dann bin ich 50 Jahre lang geblieben!

sueddeutsche.de: Wenn Sie Patienten wie Thomas Fuchsberger sehen - was bedeutet das für sie?

Mehnert: Es macht mich sehr glücklich. Ein Patient wie Thomas Fuchsberger ist der schönste Lohn. Ich wäre sicher ein schlechter Onkologe geworden, weil für mich das Erfolgserlebnis so wichtig ist. Der Onkologe hat auch große Erfolge mittlerweile. Aber ich kann sagen: 100 Prozent meiner Patienten sind gut einstellbar - wenn ich mir Mühe gebe und vom Patienten auch was zurückkommt. Und das beglückt mich.

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