Interview mit Gerlinde Kaltenbrunner:"Ich wusste, da lebt keiner mehr"

Gerlinde Kaltenbrunner startet zum Dhaulagiri, wo sie 2007 knapp dem Tod entkam. Ein Gespräch über Angst, Ehrlichkeit und Scheitern.

Birgit Lutz-Temsch

Gerlinde Kaltenbrunner, Profibergsteigerin, stand bereits auf den Gipfeln von zehn Achttausendern. Die 37-Jährige bestieg sämtliche Gipfel ohne künstlichen Sauerstoff.

Interview mit Gerlinde Kaltenbrunner: Beim Aufstieg am Broad Peak.

Beim Aufstieg am Broad Peak.

(Foto: Foto: Dujmovits, Amical)

SZ: Sie wären im vergangenen Jahr am Dhaulagiri fast ums Leben gekommen, zwei andere Bergsteiger starben. Wie geht es Ihnen jetzt, wenn Sie diesen Berg wieder angehen?

Gerlinde Kaltenbrunner: Ich setze mich jetzt intensiver damit auseinander und bin sehr positiv eingestellt. Ich kann aber nicht sagen, wie es dort sein wird. Mein Zelt stelle ich sicher nicht wieder an derselben Stelle auf. Ich habe mit meinem Teampartner David Göttler besprochen, dass wir das Lager 2, in dem mich die Lawine erwischte, auslassen.

SZ: Hat sich für Sie seitdem etwas verändert?

Kaltenbrunner: Ich habe das Gefühl, alles noch bewusster aufzunehmen. Ich spüre, dass ich öfter mal Danke sage, dass ich das alles so leben und genießen kann.

SZ: Wie gehen Sie mit Angst um?

Kaltenbrunner: Über Angst habe ich mir lange keine Gedanken gemacht. Echte Angst habe ich erst am Dhaulagiri verspürt, als ich darum gekämpft habe, aus dem Schnee herauszukommen. Wir waren vier Bergsteiger in drei Zelten, als die Lawine abging. Die Lawine hat das Zelt mit zwei der Spanier, Santiago Sagaste und Ricardo Valencia, richtig einbetoniert. Und mein Zelt mitgerissen. Das des dritten Spaniers, Javier Serrano, war gerade mal mit Schnee bedeckt. Ich konnte mich nach etwa einer halben Stunde selbst ausgraben, dann habe ich die anderen beiden ausgeschaufelt. Allein.

SZ: Wie ging es Ihnen dabei?

Kaltenbrunner: Ich habe die ganze Zeit geschrieen. Ich schaufelte und wusste: Da lebt keiner mehr. Gleichzeitig hatte ich furchtbare Angst, dass da noch was runterkommt. Da war ich psychisch in einem Grenzbereich. Ich dachte mir, ich darf jetzt nicht die Nerven verlieren. Als ich Santiago und Ricardo ausgegraben hatte, lief ich zu der Stelle, wo das dritte Zelt gestanden hatte und schaufelte den Eingang frei. Man stelle sich vor: Javier hatte zwar meine Schreie gehört, sie aber für einen Traum gehalten. Und ich konnte ihm nur noch seine toten Freunde zeigen.

SZ: Wie lange hat es gedauert, bis Sie damit zurechtkamen?

Kaltenbrunner: Richtig für mich gemerkt habe ich es im Juni darauf. Beim stundenlangen Dahingehen zum Broad Peak habe ich gefühlt: Ich gehöre hierher. Ich konnte alles durchdenken. Und dann wollte ich das auch so stehen lassen und nicht mehr grübeln, was wir hätten anders machen können. Es ist passiert. Man kann es nicht rückgängig machen.

SZ: Haben Sie danach ans Aufhören gedacht?

Kaltenbrunner: Nein. Bergsteigen bleibt bis an mein Lebensende meine große Leidenschaft.

SZ: Gab es schon Situationen, in denen Sie dachten, das schaffe ich nicht mehr?

Kaltenbrunner: Nein, noch nie. Ich glaube einfach immer bis zum Schluss, dass es geht. Sonst säße ich vielleicht auch nicht mehr hier. Am Kangchendzönga konnten wir unser Zelt nicht aufstellen, weil es so gestürmt hat. Dann saßen wir in der Zelthülle, in Schnee und Eis, und irgendwann ging es nass durch den Daunenanzug. Wenn Du da im Kopf aufgibst, dann schläfst Du ein und erfrierst. Aber ich habe mir vorgesagt: Es wird besser. Um drei Uhr morgens hat der Sturm nachgelassen und wir konnten den Kocher starten. Nach den ersten heißen Schlucken habe ich gewusst: Jetzt geht's aufwärts.

SZ: Wie nähern Sie sich dem Berg, den Sie besteigen wollen?

Kaltenbrunner: Mit Ehrfurcht. Ich halte Zwiegespräche mit dem Berg. Und denke mir, hoffentlich lässt er mich hinauf. Aber nicht auf Biegen und Brechen! Ich versuche, Zeichen des Bergs wahrzunehmen. Gerade nach dem Dhaulagiri habe ich mir viele Gedanken gemacht, dass ich nicht auf die Zeichen gehört habe. Im Vorfeld war so eine Unruhe drin, es ist viel passiert. Und dann hätte es mich selber noch fast erwischt. Musste ich das unbedingt noch versuchen? Aber der Ehrgeiz war halt groß.

SZ: Der Ehrgeiz, auf den Gipfel zu kommen?

Kaltenbrunner: Der Gipfel bedeutet mir schon sehr viel. Diese intensiven Gefühle, nach den ärgsten Strapazen oben zu stehen: Du erlebst etwas, worauf Du so lange hingearbeitet hast, über Dir ist nichts mehr außer ein paar Wolken, Du schaust runter und die Sechstausender sind auf einmal gar nicht mehr so riesig. Diese Momente geben mir sehr viel Energie.

SZ: Es wird oft gesagt, dass Sie die erste Frau sein wollen, die alle 14 Achttausender besteigt...

Kaltenbrunner: Das wird mir immer in den Mund gelegt. Das war und ist nicht so. Ich will auf jeden Achttausender, ja. Aber ob als erste oder fünfte, ist mir egal.

SZ: Kann man an einem Berg scheitern?

Kaltenbrunner: Viele beschreiben es als Scheitern, als Aufgeben, wenn man umkehrt. Ich sehe das anders. Aber ich drehe sowieso immer alles ins Positive! Aufgeben heißt für mich: Ich habe keinen Lebenswillen mehr, alles ist vorbei. Dass ich 2006 am Lhotse hundert Meter unter dem Gipfel kehrtmachte, oder 2007 am K2, habe ich nicht als Scheitern empfunden. Wer weiß, ob wir sonst runtergekommen wären. Ich bin froh, es neu versuchen zu können.

SZ: Wie wichtig sind Partner?

Kaltenbrunner: Sehr wichtig. Man muss sich aufeinander verlassen können, wenn was wäre. Und man muss ehrlich sein. Sagen, wenn es einem nicht gut geht. Als ich mit meinem Mann Ralf Dujmovits und dem Japaner Hiro Takeuchi am Mount Everest ein Dreierteam bildete, war Hiro nicht ehrlich. Er hatte starke Kopfschmerzen, und sagte nichts. Er bekam ein schweres Hirnödem und war mehrere Stunden bewusstlos. Ich hatte die richtigen Medikamente dabei, wir haben ihn erst behandelt und dann hinuntergebracht. Im Basislager haben wir dann stundenlang diskutiert, dass das nicht mehr sein darf.

SZ: Haben Sie überlegt, allein weiter zu steigen?

Kaltenbrunner: Keine Sekunde! Als wir im Basislager ankamen, sagte ein Neuseeländer, er fände klasse, was wir gemacht haben. Das fand ich sehr befremdlich. Mit dem Hiro im Basislager anzukommen, das war das Schönste, was uns in unserem Bergsteigerleben bisher widerfahren ist. Ein Menschenleben zu retten, was wir in diesem Fall wirklich gemacht haben, das ist schon das Allerhöchste.

SZ: Sind Sie als Frau zu Beginn schief angeschaut worden?

Kaltenbrunner: Ich bin nicht schief, ich bin gar nicht angeschaut worden. Mittlerweile fragen mich viele nach meiner Taktik. Witzig war, als ich gleichzeitig mit Kasachen am Nanga Parbat aufgestiegen bin. Es gab sehr viel Schnee. Normalerweise wechselt man sich dann in der Spurarbeit ab. Mich haben sie übergangen. Ich war allerdings vorher schon am Kangchendzönga und besser akklimatisiert als alle anderen. Also bin ich doch an die Spitze gestiegen und habe gleich bis zum nächsten Lager durchgespurt. Da wollten sie dann auf einmal wissen, wer ich bin und wo ich herkomme. Später im Basislager haben sie mir erzählt, dass sie das einfach nicht gewöhnt sind, dass Frauen Bergsteigen.

SZ: Woher nehmen Sie Ihre Motivation?

Kaltenbrunner: Wenn ich jetzt trainiere, denke ich oft daran, als voriges Jahr auf dem Broad Peak auf 7000 Metern die Sonne kam. Keine Wolken, endlose Fernsicht, unzählige Gipfel, ein Berg schöner als der andere. Da verspüre ich eine unbeschreibliche Freiheit, da denke ich, ich hebe ab. Das sind die Momente, die im Kopf bleiben. Es bleiben aber eigentlich eh nur die positiven Bilder. Das muss wahrscheinlich so sein.

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