Internet:Pilgern mit Smartphone

Herberge beim Pilgern

Wer in Zeiten des Internets eine Herberge sucht, hat es einfacher als Maria und Jospeh. Couchsurfing sei Dank.

(Foto: AFP)

Ohne Internet und Handys war alles besser? Von wegen. Mit einem Smartphone hätten Maria und Joseph auf einem Couchsurfing-Portal nach hilfsbereiten Gastgebern suchen können. Ein Niederländer läuft seit zwei Jahren die großen Pilgerwege ab - und demonstriert die Barmherzigkeit im Netz.

Von Alex Rühle

Wichtig ist ja immer, wie man in solch einen Text reinläuft. Wo man die Leser abholt. Jetzt zur Adventszeit bietet sich als Einstieg beispielsweise der hohe Ton des Lukas-Evangeliums an: Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von der Königin Beatrix ausging, dass alle Welt doch bitte ablassen möge von diesem grausligen Internet. Dasselbige sei bös und schlecht, der Mensch, der zu lange darin verweile, werde ohnverzagt der Einsamkeit anheimfallen und erkalten wie ein Stein. Wie wohlgeordnet und freundlich sei die Welt zu Zeiten von Joseph und Maria gewesen, wie scheußlich sei sie heute.

Es war der Weihnachtsabend im Jahre des Herrn 2009 in den Niederlanden, die Menschenkinder scharten sich um ihre Fernsehgeräte und fühlten Wärme beim Anblick und den Worten ihrer großmütterlichen Königin. Einem aber stunden alle Haare gen Berg ob dieser Worte und er sprach bei sich: potzblitz, was sind das für Grillen, was redet unsre Beatrix da nur für einen hanebüchenen Unsinn. Da er aber von stillem Gemüt war, bewegte er all das nur in seinem Herzen, hielt ansonsten die Klappe und aß weiter lecker Plätzchen.

Wir könnten unsere Leser aber zum Einstieg auch mitten in ihrem eigenen Leben abholen. Das hier denkt schließlich jeder ab und zu: Man müsste mal. Ich würd' so gern. Ach, eines Tages . . . Der eine denkt es still bei sich, der andere gibt großspurig mit seinen Lebensrenovierungsplänen an. Am nächsten Tag aber sitzen doch wieder beide in der Kantine und stochern still im Salat namens Alltag rum.

Es gibt aber auch die wenigen, die es tatsächlich tun. Der Niederländer Wijnand Boon zum Beispiel. Neun Monate nach der Weihnachtsansprache schrieb er seiner Königin einen höflichen Brief, in dem er Bezug nahm auf ihre Rede und gelobte, ihr als treuer Untertan das Gegenteil zu beweisen: Weil sie damals ja ein Hohelied auf Joseph und Maria gesungen habe, werde er, obwohl nicht gläubig, die drei großen Pilgerziele des Christentums ablaufen: Santiago di Compostela, Rom, Jerusalem. Seine Übernachtungen aber suche er sich ausnahmslos per Smartphone. Sie werde sehen, die Menschen sind durch die digitale Vernetzung kein bisschen schlechter geworden. Sie sind auch nicht besser geworden, aber dank Internet kann man die guten viel leichter finden als früher.

Dann stellte Boon seine Möbel auf die Straße. Alle. Sogar den so geliebten wie ausladenden Schreibtisch seines Großvaters. Schrieb ein Schild dazu: Zu verschenken. Und legte sich ein letztes Mal schlafen in seiner leergeräumten Wohnung. Am nächsten Morgen war das Zeug aus seinem bisherigen Leben restlos weg. Und Boon hat seinen Rucksack geschultert und ist losgegangen, raus aus seiner Heimatstadt Leiden in Richtung Süden, raus aus seinem bisherigen Leben mitten rein ins Unbekannte.

5000 Kilometer, zwei Jahre und drei Monate später

Das Ganze ist mittlerweile 5000 Kilometer her. Oder zwei Jahre und drei Monate. Apropos, was ist überhaupt wichtiger im Leben? Die Zeit oder der Raum? Da wären wir dann schon bei den ganz fundamentalen Fragen, um die Wijnand Boon ohnehin gerne kreist, sei es auf seinem famosen Wander-Blog Twalkwithme.eu, sei es beim Wandern selber: mittags unter einer Platane am Straßenrand der Via Aurelia, während er eine Selbstgedrehte raucht; nachmittags im Café hinter Massimina oder spätabends bei seiner norwegisch-walisisch-italienischen Gastgeberin: Immer geht es um das Große, Ganze, Zeit und Raum, Sinn des Lebens, Euro-Krise.

Jetzt aber will Boon erst mal los. Leser abholen schön und gut, macht er ja auch bereitwillig, er hat an diesem Vormittag stundenlang auf seinen deutschen Leser am winzigen Bahnhof von Palidoro gewartet, aber der Weg ist weit, und heute oder morgen ist der große Tag, Rom, Petersdom, Vatikan. Eines der drei großen Ziele dieser noch viel größeren Pilgerreise liegt nur noch dreißig Kilometer vor ihm.

Wijnand Boon ist braun gebrannt, mitten im Winter. Gestutzter Bart, gegerbte Haut, ein schlanker Mann von 35 Jahren. Am auffälligsten an ihm ist aber erst mal dieser schmale Wagen mit den zwei Handgriffen. Den hat er vor einem Jahr in Nordspanien entdeckt, seither trägt er keinen Rucksack mehr, sondern zieht all sein Hab und Gut auf zwei Rädern hinter sich her. Obenauf die Gitarre, ansonsten Kleidung, Bücher und ein Zelt, das er aber nur sehr selten braucht, Couchsurfing sei Dank.

Boon schaut auf die Satellitenkarte seines Smartphones, wir sind ein blauer Punkt am Rand der schnurgeraden, breiten und sehr stark befahrenen Via Aurelia, weit und breit keine Nebenstraßen in Sicht. "Doesn't matter", sagt er, "let's go".

Also erst mal gehen. Passt ja. Ist schließlich Boons Lebensbeschäftigung. Von Leiden aus ist er nach Belgien runter, dann quer durch Frankreich, Paris, Burgund, Atlantikküste, über die Pyrenäen, durchs Baskenland, nach Santiago de Compostela. Immer den Pilgerwegen nach.

Diese Wege stammen aus dem Mittelalter, das Smartphone aus dem 21. Jahrhundert, das ja laut den Worten seiner Königin so eisekalt ist. Boon sucht all die Leute, die ihn bei sich einlassen, über Facebook oder "Couchsurfing". Das ist ein Gastfreundschaftsnetzwerk im Internet, eine Seite, auf der mehr als drei Millionen Menschen aus aller Welt registriert sind, die entweder umsonst ein Bett und eine warme Mahlzeit anbieten oder eben eine kostenlose Unterkunft suchen. "Facebook mag ich aber lieber", sagt Boon. "Couchsurfer beherbergen teilweise 200 Gäste im Jahr. Immer umsonst, das ist ja der Witz daran, aber bei denen hat das dann trotzdem oft so etwas Professionelles: hier dein Bett, hier der Schlüssel, hier das Bad, gute Nacht." Beim Reden glänzt Boons Gesicht wie ein runder Winterapfel. Wenn er dann noch lacht, überzieht ein Netz aus Fältchen seine Haut. "Ich mag es lieber, wenn ich mit den Leuten so richtig ins Gespräch komme."

Es geht schnell um die ganz großen Fragen

An diesem Abend sind es Kirsten und Rick, mit denen er ins Gespräch kommen wird. Kirsten ist in Italien als Tochter eines Walisers und einer Norwegerin geboren, eine Sprachenlehrerin, die auf Wijnands Blog gestoßen ist, ihn zu sich einlud und die nun geradezu festlich gekocht hat. Leider teilt sie sich die Wohnung mit einem Kalifornier, der es sich zur Lebensaufgabe gemacht zu haben scheint, allen Verschwörungstheorien, die zur Zeit so um den Globus schwirren, in seinem Kopf großzügig Asyl zu gewähren: die Euro-Krise? Ist gar keine Krise, wird alles von einer Politmafia gesteuert. Aids? Keime, CIA. 9/11? Die Juden und das FBI. Er regt sich bei Pasta und Wein darüber auf, dass die Römer kein Englisch können, spricht selber aber kein Wort Italienisch. Es ist beeindruckend, wie ruhig Wijnand Boon den ganzen Abend über bleibt, ohne diesem Vollblutnarren je nach dem Mund zu reden.

All das ist aber ja momentan noch in weiter Ferne. Erst mal weiterlaufen, auf dem Seitenstreifen der ziemlich engen Via Aurelia entlang, auf der die Autos so eng an Boon vorbeirauschen, dass seine Gepäck-Rikscha manchmal wackelt.

Boon hat einen sehr raschen Schritt, immer wieder zieht er davon, man merkt ihm an, dass er seit mehr als zwei Jahren täglich seine 30 Kilometer läuft. Gleichzeitig vergehen die zwei Tage mit ihm in ganz ruhigem Rhythmus, laufen, reden, Raucherpausen, mal am Straßenrand, mal im Café, mal auf der Hebebühne einer Autowerkstatt, und man versteht schon nach kurzer Zeit mit ihm, warum die meisten Leute, die ihm Unterkunft gegeben haben, danach auf Facebook so enthusiastisch über die Begegnung mit ihm schreiben: Er ist sehr witzig, zugleich geht es, wie gesagt, schnell um die ganz großen Fragen, die die meisten von uns gar nicht mehr stellen, weil sie sie irgendwann abgeheftet haben in dem großen Ordner für vermeintlich unlösbare Probleme: Was mach ich hier eigentlich? Soll das wirklich alles sein? Immer so weiter, nur damit ich eine Sozialversicherungsnummer habe?

Die meisten, die von Boon hören, denken entweder, er sei todesmutig, verrückt oder Sozialschmarotzer, einer, der nix hatte und jetzt billig durchs Leben kommt. Was für ein Unsinn. Boon hat politische Philosophie studiert und arbeitete dann im Stadttheater von Leiden als eine Art soziopolitischer Dramaturg: Woche für Woche organisierte er parallel zum Spielplan Diskussionen, Panels, Podien. "Davor habe ich drei Cafés geleitet, mir ging es wirklich sehr gut, ich habe einen großen Freundeskreis und hatte alles, was man so haben zu müssen glaubt. Ich glaubte nur irgendwann nicht mehr, dass man irgendetwas davon haben muss."

Eigentlich begann seine Pilgerreise schon sieben Monate vor dem eigentlichen Aufbruch. In Sankt Anton, in Österreich, beim Skifahren. Auf der Piste muss es eines Tages klick gemacht haben. Einer dieser Momente, in denen alles von einem abfällt wie ein Rucksack voll sinnlos altem Schamott. Boon benutzt keine großformatigen Begriffe, aber es klingt wie eine dieser tiefen Epiphanie-Erfahrungen aus mystischen Lebensberichten. "Alles war plötzlich sonnenklar. Ich bin frei. Ich muss gar nichts. Klingt hier am Straßenrand nach Motivationsseminargelaber und Paulo Coelho. Aber damals hat es mich halb zerrissen. Es war so klar, dass ich tanzen musste." Boon tanzte fast drei Tage, vor allem auf einem Tisch in einem Restaurant, alles ganz ohne Drogen. Nach seiner Rückkehr aus Sankt Anton fing er an, sich auf diese Reise vorzubereiten.

Zeit ist Boon fast egal

Ja. Klingt verrückt. Aber Boon hat weder was von einem theologisch verstrahlten Aussteiger, noch wirkt er sozialgestört.

Er hat in fensterlosen Abstellräumen auf dem Boden geschlafen und in palastähnlichen Ferienhäusern mit Panoramablick aufs Mittelmeer. Er hat bei Architekten übernachtet und bei Lehrern, bei einem amerikanischen Professor in Italien und dem Führer in der Kathedrale von Amiens, in Studenten-WGs, bei Arbeitslosen, Kleinfamilien und Bauern. Er lief durch die europäische Krise (Portugal, Spanien, Italien) und durch den größten denkbaren Reichtum (in Menton hatte er einmal einen eigenen Butler). Und immer wieder betonen die, die ihn beherbergt hatten, danach, wie angenehm, belebend, klug oder lustig die Begegnung mit ihm gewesen sei. Einer seiner Gastgeber schrieb auf Facebook: "Was mich immer noch beschäftigt, ist sein gedehntes Zeitempfinden und zugleich ein extrem genaues räumliches Bewusstsein - eigentlich ist es ja heutzutage bei uns allen genau umgekehrt."

Was der Mann meinte: Der Raum ist für uns völlig unwichtig geworden, Lissabon, Leiden, Rom, egal, man kann mit dem Flieger in wenigen Stunden an jedem Ort sein. Umgekehrt proportional zum Verschwinden des Raumes wurde die Zeit immer wichtiger, wertvoller. Zeit ist Geld, Zeit ist alles, Effizienz bedeutet, möglichst viel Arbeit in möglichst wenig Zeit zu stopfen.

Bei Boon ist es umgekehrt. Der Raum ist, da er ihn zu Fuß durchwandert, unendlich kleinteilig geworden, zwei Jahre hat er von Leiden hierher gebraucht, zu dieser platanenbewachsenen Parkbucht, hinter der ein Einkaufszentrum hochwuchert und das Stadtgerümpel der römischen Vorstädte beginnt. Zwei Jahre, und doch weiß er eigentlich von jeder Woche, wo er da jeweils war, die ligurische Steilküste, die Eichenwälder im Baskenland, die romanische Kirche mit dem Moosdach an einem Spätnachmittag im Burgund . . .

Die Zeit aber, die ist Boon fast egal. Er ist im Verlauf der Reise aus unserer gestundeten Zeit rausgewandert. Ich brauche drei Wochen die Côte d'Azur entlang? Na, dann brauche ich die eben. Nur einen Termin gibt es für ihn: den 14. September 2014. Da findet in Kairo die Friedenskonferenz "Master Peace" statt, er hat sich vorgenommen, zum Konferenzauftakt einzulaufen mit seinem Wagen. Aber ob er im September in Rom ankommt, wie ursprünglich geplant, oder nun doch erst Ende November - was macht es für einen Unterschied. In Lissabon hat er seinerzeit vier Monate Pause gemacht, die Stadt gefiel ihm so gut, außerdem wollte er der Sommerhitze in der Extremadura entgehen. Also heuerte er in der Jugendherberge als Koch an.

Tagsüber braucht er sechs bis acht Euro

Apropos: Wie finanziert er sich überhaupt? "Meine Gastgeber bekochen mich meist sehr großzügig. Tagsüber brauche ich sechs bis acht Euro. Zwei Kaffee, ein Mittagessen, das ist alles. Ab und zu arbeite ich, das meiste bekomme ich über Spenden." Es gibt auf seiner Website ein Sparschwein, wer will, kann ihm monatlich etwas zukommen lassen.

Und? Hat ihn das digitale Pilgern verändert? "Ich bin sehr viel spiritueller geworden. Gläubig würde ich nicht sagen, ich seh mich ja nicht als Vertreter oder Anhänger einer Religion. Aber ich glaub beispielsweise nicht mehr an Zufälle."

Kurz nachdem er das sagt, kostet ihn ein dummer Zufall fast das Leben: Die Via Aurelia wird kurz vor Rom zu einer Art Autobahn. Ohne Standstreifen. Es ist dunkel, außerdem regnet es. Eine Frau biegt auf die Aurelia ein, telefoniert gleichzeitig und fährt Boon deshalb beinahe über den Haufen. Er bleibt stehen. "Zu gefährlich. Wir nehmen jetzt den Bus." Den Bus? Nach Rom? "Ja, zu gefährlich, morgen früh fangen wir hier wieder an."

So sind wir denn mit dem Bus abends zu seiner Gastgeberin und ihrem verstrahlten amerikanischen Untermieter gefahren und am kommenden Tag zurück vor die Stadtgrenze, an genau dieselbe Stelle und wieder los: Rom. Regen. Das enge Straßengewirr. Viel Verkehr. Hohe Mauern. Und dann, gegen Mittag, plötzlich die Weite des Petersplatzes. Ein paar Nonnen, zwei Touristinnen. Ansonsten alles leer. Die Ankunft ist, wie oft bei großen Reisen, gar kein besonderer Moment.

Schöner war die Szene eine Stunde zuvor, unter einer grünen Markise, vor einem kleinen Straßencafé. Der Regen tropfte einen strengen Takt auf den Ascheimer, da fing Boon plötzlich dazu zu singen an: "You want a big house / You want a big car / Do you need the eyes of an other / just to know who you are?" Großartige Reibeisenstimme, der Ober kommt raus und fragt, von wem das sei. "Oh, danke, von mir." Stimmt, man kann's auf Youtube sehen, Boon war, das kommt en passant raus, in seinem früheren Leben auch Sänger einer ziemlich guten Band.

In Rom blieb er übrigens nur drei Tage. Mittlerweile ist er schon wieder hundert Kilometer weiter nördlich, in der Gegend von Viterbo, und läuft Richtung Jerusalem.

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