Integration:Was die Tafel-Debatte mit der Flüchtlingspolitik zu tun hat

Integration: Kunden der Essener Tafel mit Lebensmittelspenden.

Kunden der Essener Tafel mit Lebensmittelspenden.

(Foto: AFP)

Hinter der Aufregung um die Essener Tafel steckt ein Thema mit deutlich mehr Zündstoff. Die Politiker sollten endlich den Mut haben, offen darüber zu reden.

Kommentar von Ferdos Forudastan

So dominant die Schlagzeilen zur Essener Tafel auch sein mögen: Hinter dem Streit über ihren Aufnahmestopp für Ausländer scheint eine Frage auf, die wesentlich größer und sehr viel grundsätzlicher ist. Eine Frage, die deutlich mehr Zündstoff birgt als das, was da gerade im Ruhrgebiet geschieht. Es ist die Frage nach den Folgen der Flüchtlingspolitik. Der Chef der Essener Tafel hat einen großen Fehler begangen. Aber es wäre falsch, es bei der Kritik daran zu belassen. Es wäre falsch, sich nicht damit zu befassen, was unter anderem der Fall Essen mit der Aufnahme sehr vieler Schutzsuchender zu tun hat. Und es wäre falsch, die Debatte darüber auszulassen, wie vor allem die Politik sich künftig besser als bisher des Themas Integration annehmen könnte.

Menschen in Not aufzunehmen, erfordert Verzicht. 2015 fehlte der Mut, dies offen zu sagen

In Essen und an anderen Tafeln zeigt sich, dass der Zuzug vieler Menschen, die oft wenig haben, besonders solche Frauen und Männer betrifft und bedrückt, die schon immer hier leben und ebenfalls Mangel leiden. Schon richtig, es ist eine Schande, dass ein reiches Land wie Deutschland Tafeln braucht. Diese Schande währt schon sehr lange; sie ist viel älter als die Aufnahme von über einer Million Menschen seit 2015. Diese Aufnahme verschärft längst nicht überall die Konkurrenz um knappe Güter. Aber punktuell geschieht genau das. Punktuell ringen alteingesessene arme Rentner, Alleinerziehende oder Langzeitarbeitslose mit Flüchtlingen darum, wer nun was von den Lebensmitteln abbekommt, die man sich sonst nicht leisten kann. Die Menge der Lebensmittel, die kostenlos abgegeben werden, wird ungefähr gleich geblieben sein. Die Menge der Menschen, die sie brauchen, hat aber zugenommen.

Gravierender sieht es bei günstigen Wohnungen aus. Es gibt - auch das ist eine Schande - derer viel zu wenige. Schon lange vor dem Herbst 2015 war die Wohnungspolitik blind für die Bedürfnisse vieler Bürger. Dass gerade Menschen mit einem kleinen Budget häufig keine halbwegs angemessene Unterkunft finden, war schon traurige Realität, bevor die Flüchtlinge kamen. Nun aber ist das knappe Gut Wohnung mancherorts noch knapper geworden.

Dass die gewachsene Konkurrenz gerade Frauen und Männer in ohnehin prekären Lebensverhältnissen besorgt, ist nachvollziehbar. Sie sind es, die in den längeren Schlangen vor der Essensausgabe stehen; sie sind es, die sehnsüchtig auf ein bezahlbares Dach über dem Kopf warten. Und man sollte ihre Sorgen auch nicht deswegen ignorieren, weil Unionspolitiker sie nutzen, um gegen die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin zu sticheln - und Rechtspopulisten sie missbrauchen, um gegen Flüchtlinge zu hetzen.

Es war richtig, dass Deutschland die Menschen in Not aufgenommen hat. Aber es war verkehrt, dass die Bundesregierung sich kaum bemüht hat, gründlich auszuleuchten, was diese Entscheidung bedeutet. Sie verlangt dem Staat ab, die Flüchtlinge nicht nur aufzunehmen, sondern sie zu versorgen, unterzubringen, auszubilden, in den Arbeitsmarkt einzugliedern, ihre Kinder in die Schule zu schicken. Sie kostet Kraft und Geld und Zeit. Sie funktioniert nicht ohne Verzicht. Sie gelingt nicht in jedem einzelnen Fall. Und: Die Integration der Zugezogenen hängt zwar wesentlich davon ab, wie klug die Politik agiert; aber sie ist auch auf Bürger angewiesen, die sich um die neuen Nachbarn kümmern.

Damals, im Herbst 2015 und in der Zeit danach, hatten Bundeskanzlerin Angela Merkel und die Ihren nicht den Mut, das offen zu sagen. Sie sollten es nun endlich nachholen - nicht nur, weil die Bevölkerung einen Anspruch darauf hat. Die Debatte darüber wäre außerdem das beste Mittel gegen Fremdenangst und Fremdenhass.

Nein, dass die Essener Tafel vorerst keine weiteren Ausländer aufnimmt oder Pirmasens eine Zuzugssperre selbst für anerkannte Asylbewerber ohne Arbeits- oder Ausbildungsplatz erlässt, zeigt nicht, dass Deutschlands Flüchtlingspolitik gescheitert ist. Diese Ereignisse zeigen aber wie unter einem Brennglas, wo in der Vergangenheit Fehler gemacht worden sind - und wo sie auch weiter gemacht werden: Fehler im Umgang mit Armut etwa; Fehler in der Wohnungspolitik; Fehler bei der Integration von Flüchtlingen; Fehler in der politischen Kommunikation. Man kann diese Fehler nicht von heute auf morgen ungeschehen machen. Aber man kann sich mit ihnen auseinandersetzen - und dann beginnen, sie zu beseitigen.

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