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Das St.-Pauli-Theater feiert seinen 175. Geburtstag - und stößt auf die gute Nachbarschaft auf der sündige Meile in Hamburg an.

Von Thomas Hahn

Auf der engen Bühne des St.-Pauli-Theaters sind an diesem Abend Ausländer am Werk, genauer gesagt: Bayern. Gerhard Polt und die Biermösl Blosn haben ihren zweiten Auftritt im Rahmen des Hamburger Kabarettfestivals, zwei Institutionen des bajuwarischen Humors also, und man kann nicht sagen, dass sie das hanseatische Publikum schonen. In Wort und Klang weht der ganze freistaatliche Wahnsinn mit Feuerwehrfest und lokaler CSU-Seilschaft durchs alte Haus an der Reeperbahn. Es wirkt fast riskant, was Polt mit seinen Mundart-Monologen und die Well-Brüder mit ihren Gstanzln da machen: Diese handfeste Hintergründigkeit aus dem entfernten Süden könnte die Hamburger im ausverkauften Saal befremden. Aber das tut sie nicht. Applaus. Jubel. Und vor der letzten Zugabe dankt Polt dem St. Pauli-Theater für dessen "Hospitalität".

Kann man neben den Huren, den Laufhäusern, den Clubs seriös Theater spielen?

Man darf ein Publikum nicht unterschätzen. Man muss ihm die Chance geben, sich auch mal von etwas schrägeren Tönen unterhalten zu lassen. Das ist die Botschaft des St.-Pauli-Theaters, das am 30. Mai seinen 175. Geburtstag feiert. Das eines der ältesten Privattheater Deutschlands ist. Und das nicht nur vor dem Zeitgeist bestehen muss, sondern auch vor seiner unmittelbaren Nachbarschaft.

Spielbudenplatz 29-30. Wie eingekeilt in einer Gebäudezeile der Widersprüche liegt das St.-Pauli-Theater mitten im lauten, blinkenden Kiez. Linker Hand erstrecken sich Schmidts Tivoli und das Schmidt Theater, die Bühnenbetriebe des Impresarios Corny Littmann, die auf sehr leichte Kulturkost spezialisiert sind. Rechter Hand schließt sich die Davidwache der Polizei an, die vor allem an Wochenenden Endstation für Kleinkriminelle, Chaoten und Kotzende ist. Und etwas weiter, jenseits der Davidstraße, beginnt die eigentliche sogenannte sündige Meile mit den Huren, den Laufhäusern, den Clubs. Kann man hier überhaupt seriös Theater spielen?

Thomas Collien macht das Fenster zu, damit der Lärm vom Kiez das Gespräch im kleinen Konferenzraum unterm Dach des Theaters nicht stört. Der Regisseur Ulrich Waller ist auch da. Er und der Kaufmann Collien leiten seit 2003 das St.-Pauli-Theater, und gemeinsam stehen sie für den Aufbruch ihres Hauses in eine neue Zeit.

Die Geschichte des St.-Pauli-Theaters ist wechselhaft, voller Pleiten, voller kurioser Wendungen und Namenswechsel. Im 19. Jahrhundert hat es hier auch mal Shakespeare- oder Schiller-Inszenierungen gegeben, später sogar deutsche Erstaufführungen von Gesellschaftsstücken wie "Die Frau vom Meer" des norwegischen Dramatikers Henrik Ibsen. Aber im Grunde war das St.-Pauli-Theater immer ein Lustspielhaus für bodenständige Leute. Hier führte der frühere Inhaber Ernst Drucker Ende des 19. Jahrhunderts den Zungenschlag des Hamburger Heimattheaters ein. Resolute Volksschauspielerinnen wie Trude Possehl oder Christa Siems waren in den ersten Nachkriegsjahrzehnten Stützen eines hanseatischen Komödiantenstadels. Später prägten Boulevardstücke mit Fernsehprominenz den Spielplan.

Und heute?

Thomas Collien führt das Haus in dritter Generation. Sein Großvater Kurt gab noch dem derben Volksstück Raum. Vater Michael öffnete das Haus fürs Boulevardeske, bisweilen auch Schrille. Und der jüngste Collien hat den Wechsel zur feinsinnigeren Unterhaltung eingeleitet. Besser gesagt zu einer Unterhaltung, die so feinsinnig ist, wie es eben geht, in einem engen Haus, das auch gegen seine Umwelt anspielen muss. Das St.-Pauli-Theater hat kein Foyer, das einen Raum zwischen Straße und Bühnensaal legen würde. Man kann hier nicht die Türen zumachen und in eine andere Welt fliehen. Vor dem Eingang parken die Streifenwagen der Davidwache, wenn die mit Tatütata lospreschen, hört man das im denkmalgeschützten Zuschauerraum von 1841. Genauso wie die S-Bahn, die unter den Sitzreihen verläuft. "Die Wirklichkeit klopft hier doch relativ unverschämt an die Tür", sagt Ulrich Waller. Das hat Folgen für den Spielplan: "Die Stücke müssen hier schon ein bisschen lauter sein, ein bisschen robuster."

Thomas Collien hat den Regisseur Waller, 60, vor 13 Jahren von den Kammerspielen im vornehmen Stadtteil Rotherbaum geholt. Er wollte, dass das Haus vom ständigen Gastspielbetrieb wegkommt und wieder selbst produziert. Seither suchen sie zusammen für jede Premiere aufs Neue den leisen Ton, der lauter ist als der Kiez. Und Waller scheint es zu gefallen, dem anspruchsvollen Theater eine populäre Komponente abzuverlangen. Ist das nicht die wahre Bühnenkunst: Stoffe zu zeigen, die Zuschauern so viel Freude machen, dass die Erkenntnis mit den Gefühlen kommt?

Am 30. Mai gibt es eine Jubiläumsgala. Und danach wird erst mal renoviert

Waller bekommt einen leicht verächtlichen Ton, wenn er von den postmodernen Textungeheuern spricht, welche die Staatstheater immer wieder spielen. Die klingen nach großer Kunst, aber oft auch ziemlich rätselhaft. "Theater als Anstrengung, bei dem man nach zwei Tagen vielleicht kapiert, was gemeint war" - so was geht nicht am St.-Pauli-Theater, sagt Waller. Rund vier Millionen Euro beträgt der Jahresetat, 470 000 davon gibt die Stadt - trotz eines großzügigen Förderkreises wird der zahlende Zuschauer hier dringend gebraucht. Er muss also seinen Spaß haben, damit er wiederkommt und das Haus anderen empfiehlt. Die Frage ist nur: Muss der Spaß jedes Niveau unterschreiten?

Nein, findet Waller: "Was die Ansprüche angeht, so muss man den Leuten nicht gnadenlos entgegenkommen." Seinen ersten Regieerfolg am St.-Pauli-Theater hatte er 2004 nicht mit einem platten Schwank, sondern mit Bertolt Brechts Dreigroschenoper; Ulrich Tukur spielte damals den Mackie Messer, Eva Mattes die Mrs. Peachum, zwei sehr anerkannte Schauspieler also. Gute Stücke, die spannende Geschichten erzählen, sind tief und eingängig zugleich, und die passen ins Waller/Collien-Theater. Klassiker des 20. Jahrhunderts wie "Wer hat Angst vor Virginia Woolf" zum Beispiel, oder die Film-Adaption "Große Freiheit Nummer 7", die für das Ende der nächsten Spielzeit mit Volker Lechtenbrink geplant ist. Das Musical Anatevka war 2011 ein Erfolg. Diesen Januar hatte "Bella Figura" von Yasmina Reza Premiere. Und ein Kabarett-Programm von Polt ist ja auch kein dumpfer Klamauk. Das St.-Pauli-Theater hat seine Nische am Kiez gefunden.

Am 30. Mai gibt es eine Jubiläumsgala zum 175. in der Laeiszhalle, anschließend ist Party im Theater am Spielbudenplatz. Und bald darauf rücken die Bauarbeiter an, um Bühne und Saal endlich nach aktuellen Standards zu sanieren. Kostenpunkt: knapp zwei Millionen Euro, öffentliches wie privates Geld fließt in die Renovierung, und zum ersten Mal seit 25 Jahren muss das St.-Pauli-Theater eine Sommerpause einlegen. Riskant? "Jedes neue Stück ist riskant", sagt Thomas Collien, "es ist nicht so, dass wir im Geld schwimmen."

Aber vom Überleben geht er schon aus, sonst stünde nicht schon die nächste Premiere im Plan: 14. September, eine Lieder-Inszenierung zur Flüchtlingssituation von Franz Wittenbrink. Außerdem hat das St. Pauli-Theater ja noch ein paar wetterfeste Tugenden vorzuweisen. Diese "Hospitalität" zum Beispiel, von der Gerhard Polt sprach. "Wir tun wirklich alles, damit sich jemand bei uns wohl fühlt", sagt Ulrich Waller. Die Künstler, die sogar im Kiez-Geklingel unüberhörbar klug sein können, sollen gerne spielen an der Reeperbahn.

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