Historie:Mann von Weltformat

Wilhelm Ostwald war Chemie-Nobelpreisträger, aber er wollte mehr: Mit einem Plan für eine globale Ordnung aller Dinge wollte der Forscher die Welt retten.

Von Thomas Steinfeld

Es wäre doch praktisch, dachte ein berühmter Gelehrter zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, wenn man die Zahl möglicher Buchformate reduzierte, auf drei vielleicht - auf eines für Bücher, die nur Text enthalten, auf ein etwas größeres Format für illustrierte Werke und auf ein noch größeres für Bildbände. Die Rationalisierungsgewinne bei der Beschaffung des passenden Papiers, beim Druck und bei der Bindung wären erheblich, die Bücher könnten einfacher und billiger versandt werden, und welche Vorteile erst bei der Aufstellung in den Bibliotheken entstünden: Man könnte überall die gleichen Regale benützen, man müsste keinen Luftraum über den Büchern mehr verschenken, die ganze Einrichtung ließe sich nach einheitlichen Kriterien gestalten. Und wenn man so weit wäre, dann könnte man fortschreiten, zur Vereinheitlichung aller Elemente der geistigen Arbeit, vom Papier über den Schreibtisch bis zur Sprache und weit darüber hinaus.

Wilhelm Ostwald hieß der Mann, der sich dergleichen Dinge ausdachte, im Jahr 1853 in Riga geboren, im Jahr 1886 als Professor für physikalische Chemie nach Leipzig berufen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war er einer der bekanntesten Wissenschaftler überhaupt, in Deutschland wie in allen industrialisierten Ländern. Doch von der Professur hatte er sich im Jahr 1906 nach Streitereien mit den Kollegen von der philosophischen Fakultät emeritieren lassen. Anstatt weiter im Chemischen Laboratorium an der Liebigstraße zu forschen und zu lehren, war er in sein Wochenendhaus in Großbothen gezogen, auf einem Hügel oberhalb der Mulde gelegen, hatte es ausgebaut, Grundstücke hinzugekauft, weitere Gebäude errichtet und Wege gezogen. Als er im Jahr 1909 den Nobelpreis für Chemie erhielt, für seine Entdeckungen zur Katalyse, hatte er die Jahre zuvor fast ausschließlich im Erdgeschoss seines Hauses in der sächsischen Provinz gearbeitet, und dort war aus der Chemie der Plan einer globalen Ordnung entstanden, wie man ihn sich umfassender nicht vorstellen konnte - ein Zusammenschluss von Weltverkehr, Weltpost und Universalbibliothek im buchstäblichen Sinn.

Ohne Ostwalds Sinn für Regeln und Maße würde es viele Dinge nicht geben

Von dieser Ordnung ist nicht viel übrig geblieben, auch wenn man Wikipedia für die späte Einlösung dieses Plans halten könnte. Doch halten die meisten Menschen jeden Tag ein paar Dinge in der Hand, die es ohne Wilhelm Ostwalds Sinn für Regeln und Maße nicht gegeben hätte: Die in der ganzen Welt - mit Ausnahme der Vereinigten Staaten und Kanadas - gebräuchlichen Papierformate gehen auf Wilhelm Ostwald zurück, zumindest soweit sie den Maßstäben der Deutschen Industrienorm gehorchen. Jedes Format, so meinte er, müsse durch Halbierung aus dem nächstgrößeren Format hervorgehen, wobei das Verhältnis der Seitenlängen gleich zu bleiben habe. Es war zwar nicht Wilhelm Ostwald, der dieses Format durchsetzte. Das tat erst sein Schüler Walter Porstmann, der vom "Normenausschuss der Deutschen Industrie" angestellt wurde und das Weltformat auf das metrische Flächenmaß gründete. Aber es ist schwer, sich vorzustellen, diese Idee hätte eine solche Kraft entwickelt, ohne dass da auch eine Vorstellung gewesen wäre von der Ordnung aller Ordnungen, von der Norm aller Normen. Und Wilhelm Ostwald hatte an diese Ordnung geglaubt.

Wilhelm Ostwald

Die Formel drückt das Verhältnis von Länge und Höhe beim DIN-Papierformat aus. Die Idee geht auf Wilhelm Ostwald zurück. Ostwald in seinem Labor.

(Foto: Scherl/SZ-Photo)

Grimma ist eine der vielen kleinen Städte zwischen Leipzig und Dresden, die im neunzehnten Jahrhundert, ihrer besten Zeit, auf angenehme Weise deutsch gewesen sein müssen: überschaubar, wohlhabend und bürgerlich, gebildet und behaglich. Georg Joachim Göschen, einer der wichtigsten Verleger der Goethe-Zeit, betrieb hier die Druckerei, von der Johann Gottfried Seume, Korrektor in ebendiesem Verlag, im Jahr 1801 zum "Spaziergang nach Syrakus" aufbrach. Die Landesschule St. Augustin war über Jahrhunderte eine der besten und berühmtesten Bildungsanstalten des deutschen Protestantismus. Als Wilhelm Ostwald Leipzig verließ, um sich in Großbothen niederzulassen, vier Kilometer südlich von Grimma gelegen, war die ideelle Entfernung weniger groß, als eine viel jüngere Hierarchie zwischen Metropole und Peripherie nahelegen würde. Und doch ist es erstaunlich, wie aus diesem kleinen privaten Königreich in der sächsischen Provinz - es ist zumindest äußerlich völlig erhalten und kann besichtigt werden - zumindest für kurze Zeit eine Zentralagentur der modernen Bürokratie hervorgehen konnte. Es geht beharrlich das Gerücht, dort seien sogar die Sofakissen im "Weltformat" bemessen gewesen.

Als Wilhelm Ostwald zum Strategen der universalen Rationalisierung wurde, nahm er eine Idee aus der Mitte seiner wissenschaftlichen Disziplin und übertrug sie auf den Rest der Welt: Die Periodentafel, die jeder Schüler aus dem Chemieunterricht kennt, sollte zum Maßstab der Standardisierung von allem und jedem werden. Denn in der Periodentafel enthalten sind, zumindest theoretisch, alle Möglichkeiten der Chemie, jedes Element durch Zuführung von Energie, in Gestalt von Trennung oder Fusion, in ein einfacheres Element zu verwandeln. Schon im Jahr 1901, als er eigentlich noch ganz Chemiker war, hatte sich Wilhelm Ostwald mit einer "Pyramide der Wissenschaften" beschäftigt, die am Modell der Periodentafel ausgerichtet war und ein System allen Wissens bilden sollte: mit der "Logik" und der "Ordnung" an der Basis und der "Kulturologie" an der Spitze, wobei jede höhere Stufe alle jeweils unteren voraussetzte und in sich barg. Auf die Frage "Was ist Kultur?" antwortete Wilhelm Ostwald in seinem Buch "Erfinder und Entdecker" aus dem Jahr 1908: "die Verbesserung des ökonomischen Koeffizienten der umgewandelten Energie".

"Energie" heißt das im Jugendstil errichtete Haus in Großbothen, das schon bald nur eines von mehreren Gebäuden war und dann als Schaltstelle einer viel größeren Anlage diente, die sich über einen ganzen Hügel erstreckte. Und Energie - oder genauer: die Verminderung der für einen beliebigen Zweck aufzuwendenden Energie - war der Mittelpunkt einer intellektuellen Bewegung, die aus der Chemie kam und die Wilhelm Ostwald hinaustrug in die große, weite Welt, als unermüdlicher Autor und Vortragender, als Organisator, Herausgeber und Vereinsgründer. Dieses Engagement war immer noch wissenschaftlich begründet: Wie viele seiner Zeitgenossen war Wilhelm Ostwald davon überzeugt, dass mechanische Arbeit zwar in Wärme verwandelt werden könne, dieser Prozess aber umgekehrt nie vollständig gelinge. In der Folge müsse die Welt also immer wärmer werde, bis alles Leben am Hitzetod zugrunde gehe. Was also zunächst wie der Einfall wirkt, das aus der Arbeitswissenschaft oder dem "scientific management" stammende Prinzip grenzenloser Rationalisierung auf andere, jenseits der Industrie liegende Bereiche zu übertragen, war zugleich der Versuch, die finale Katastrophe ein wenig zu verschieben. Und noch etwas soll durch das Prinzip erreicht werden, möglichst wenig Energie aufzuwenden: ein "erfreuliches Dasein" oder "Glück".

Wilhelm-Ostwald-Gedenkstätte

Ostwald entwickelte ein Farbsystem in Form eines Doppelkegels.

(Foto: Jan Woitas/PA)

Nach dem Ersten Weltkrieg kümmerte er sich nicht mehr um das Projekt

Deswegen hatte sich Wilhelm Ostwald in den ersten Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts zuerst für eine "internationale Hilfssprache und das Esperanto" engagiert, um dann im Ersten Weltkrieg bei dem Vorschlag anzukommen, eine neue Variante des Deutschen solle fortan als Weltsprache dienen - mit einem hohen Maß an Regelmäßigkeit, ohne Ausnahmen, ohne Redundanzen, mit eindeutigen Beziehungen zwischen dem Zeichen und dem Bezeichneten. Deswegen wollte er das Leben auf dem Globus mit einem dem metrischen System gehorchenden "Weltgeld" einfacher und übersichtlicher gestalten. Und deswegen entstand um das Jahr 1911 das Projekt einer "Weltregistratur", in der alles Wissen formal vereinheitlicht und zentralisiert werden sollte. Eine Art globales Postamt für geistige Gegenstände sollte geschaffen werden, eine "Auskunftsstelle der Auskunftsstellen", ein gigantischer, der Dezimal-Klassifikation nach John Dewey folgender universeller Katalog. Den Anlass für dieses Unternehmen hatten ihm zwei Schweizer geliefert, ein Journalist und ein Handelsreisender, die im Sommer 1911 in der Münchner Schwindstraße, gleich hinter dem Alten Nordfriedhof gelegen, ein Projekt namens "Die Brücke" gegründet hatten.

Das Haus "Energie" in Großbothen war vieles zugleich: Es war Wohnung und Studierstube, Labor und Werkstatt, Lager und Vertriebszentrum, Kurort und Friedhof - das von Wilhelm Ostwald zuletzt gekaufte Grundstück war ein Steinbruch, der als Kulisse für die Karl-May-Festspiele in Bad Segeberg taugen könnte. In ein planes Stück Fels in der Mitte der Anlage ist das Grab für Wilhelm Ostwald, seine Frau und seine Kinder eingelassen, unten auf der Obstwiese steht eine verkleinerte Kopie des Windrads, mit dem Wilhelm Ostwald einst die Wasserversorgung seiner Gebäude betrieb, und die Hütte, in der einst das Benzin stand, das, mit Luft gemischt, die Flamme für den Bunsenbrenner liefert, ist auch noch da. Alles, was Wilhelm Ostwald trieb, hatte hier seinen Ausgangspunkt und wurde hier zusammengehalten: nicht nur die Chemie und die Weltordnung, sondern auch unzählige andere Vorhaben, zur Schulreform, zur Abschaffung der Staatskirche oder zur Erhaltung des Friedens. Diese Einheit fiel auseinander, als er Teile seines Werks in die Hände anderer legte.

Der "Brücke" war laut Satzung aufgetragen, "Weltformate" für Druckerzeugnisse zu entwickeln, Vorschläge für eine Vereinheitlichung von Maßen und Gewichten zu erarbeiten, internationale Referatedienste und Auskunfteien zu betreiben. Sie sollte die Einführung eines "Weltgeldes" ebenso vorbereiten wie eine Kalender- und eine Rechtschreibreform und die Einrichtung eines Weltpatentamtes. Das ganze Unternehmen steht den im frühen zwanzigsten Jahrhundert verbreiteten Versuchen nahe, die Kriterien der Effizienz, wie sie an den Fertigungstechniken der Industrie entwickelt worden waren, auf die "geistige Arbeit" zu übertragen. Vieles davon blieb Fantasie, manches endete in Lehrbüchern zur Lebenshilfe. In München aber, von zwei sonderbaren Lebenskünstlern, die stets dem Bankrott näher waren als einer bürgerlichen Existenz, wurde damit praktisch Ernst gemacht. Und nicht nur damit: Die Trockenlegung der Zuidersee wurde in jenem Sommer ebenso erwogen wie die Bewässerung der Sahara und die Wiederaufforstung Griechenlands. Und Wilhelm Ostwald überwies hunderttausend Mark, zwei Drittel der Summe, die er zwei Jahre zuvor für den Nobelpreis erhalten hatte, zahlbar in jährlichen Tranchen von zehntausend Mark.

Wilhelm-Ostwald-Gedenkstätte

Oswalds Villa in Großbothen war Wohnung und Werkstatt zugleich.

(Foto: Jan Woitas/PA)

Ein Mitgliederverzeichnis der "Brücke" aus dem Jahr 1913 nennt fast 600 Stifter und Mitglieder, darunter fast ein Dutzend Nobelpreisträger. Die Schriftstellerin Selma Lagerlöf war dabei, aber auch der Architekt Hermann Muthesius oder die Pazifistin Bertha von Suttner gehörten dazu. Sie alle hatten sich für ein Projekt gewinnen lassen, das auf groteske Weise nicht nur die Menge der zu verzeichnenden Gegenstände und Anschlüsse unterschätzte, sondern auch die bürokratische Erfassung von Gegenständen bereits für deren theoretische Beherrschung halten wollte: Vom Glauben an eine "total adressierbare, bis in den letzten Winkel zu erreichenden Welt" sei dieses Projekt getragen gewesen, sagt der Basler Medienwissenschaftler Markus Krajewski in seinem Buch "Restlosigkeit. Weltprojekte um 1900" (S. Fischer Verlag, Frankfurt 2006). Und wenn sich das Unternehmen "Brücke" heute auch in einem absurden Verhältnis der realen Möglichkeiten und des utopischen Anspruchs darstellt, so ist die Verwechslung von Auffindbarkeit und Wissen bis auf den heutigen Tag erhalten geblieben: Anderenfalls würde zum Beispiel keiner auf den Gedanken kommen, wie bei Wikileaks oder im Fall Snowden schon die bloße Veröffentlichung von geheimen Papieren für einen Akt der Aufklärung zu halten.

In Robert Musils Roman "Der Mann ohne Eigenschaften" aus dem Jahr 1931 gibt es ein Kapitel, in dem der General Stumm in die Wiener Hofbibliothek zieht, um den bedeutendsten aller Gedanken zu finden und Diotima zu Füßen zu legen. Erschüttert ob der Zahl der dort befindlichen Bücher fragt er schließlich den Bibliothekar, wie er sich in einem "Tollhaus" aus dreieinhalb Millionen Bänden zurechtfinde. Dieser antwortet ihm, das Geheimnis seiner Wissenschaft bestehe darin, nicht eines dieser Werke gelesen zu haben: "Wer sich auf den Inhalt einlässt, ist als Bibliothekar verloren." Genau dieses aber, das Sich-Einlassen auf den Inhalt, hatte Wilhelm Ostwald mit seiner Weltregistratur erreichen wollen, mit bürokratischen Mitteln.

Innerhalb von zwei Jahren publizierte die "Brücke" etwa dreißig verschiedene Zeitschriften und Flugblätter, in einer Gesamtauflage von einer halben Million Exemplaren. Für ein paar Monate gab es sogar eine Zeitschrift, die an jeden versandt wurde, der sie haben wollte - und an sehr viele Empfänger, die das nicht taten. Im Jahr 1913 ging die "Brücke" dann bankrott, nachdem die beiden Angestellten, wie Wilhelm Ostwald die Sache ausdrückte, "erhebliche Beträge unbedacht und nach vielen Seiten verausgabt" hatten. Dann kam der Krieg, und danach kehrte Wilhelm Ostwald nicht mehr zu seinem großen Projekt zurück, für die Ordnung aller Ordnungen sorgen zu wollen. Stattdessen widmete er sich der Farbenlehre, einem zumindest nach außen geschlossenen Bereich der Physik, den er in sich in neuen inneren Ordnungen zurechtlegte. Das einzige "Welt-Register" aber, das die "Brücke" vor ihrem Konkurs im Jahr 1913 zustande gebracht hatte, war ein inkomplettes Archiv von Werbemarken sowie eine immerhin vollständige und vollständig erschlossene Sammlung aller Ansichtskarten der Stadt Ansbach in Mittelfranken gewesen.

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