Historie:Locker bleiben!

Von den Polynesiern vor 4000 Jahren an die Strände Kaliforniens: Ein grandioses neues Buch schildert die Geschichte des Surfens.

Von Jürgen Schmieder

"Right On!" Das sind die ersten beiden Worte, die man morgens am Strand von Manhattan Beach hört. Sie sind nicht zu übersetzen, je nach Länge des "o" können sie von "Kein Stress" bis hin zu "fantastisch!" so ziemlich alles bedeuten. Dazu eine vor der Brust gedrehte Hand, nur Daumen und Zeigefinger sind ausgestreckt. Der Gruß wird Shaka genannt, die Schnelligkeit des Schüttelns verdeutlicht die Energie des Grüßenden. Im Pazifischen Ozean fläzen hier etwa 50 Mensch gewordene kalifornische Klischees auf ihren Surfbrettern: blonde Haare, weiße Zähne und eine Haut, die nicht von der Sonne geküsst, sondern intensiv darin gebadet wurde.

Auf dem Gehsteig zwischen Sand und Palmen sind Menschen in Bikini oder Badehose auf jeder möglichen Form berollter und bebretterter Fortbewegungsmittel unterwegs. Jeder wünscht dem anderen einen großartigen Tag und fragt, wie es denn heute so geht an diesem Morgen, an dem wie immer die Sonne scheint. Eilig hat es hier niemand, bloß kein Stress. Es riecht nach Salzwasser und Marihuana, das zu medizinischen Zwecken erlaubt und zum anderen Gebrauch geduldet ist.

Wer am Strand lebt und dieses Surfergefühl verinnerlicht hat, das haben die Beach Boys in ihrem Lied "Surfin' USA" festgestellt, der weiß, dass das Leben hier im Süden Kaliforniens bisweilen in Zeitlupe abläuft: "If everybody had an ocean . . .". Wer nicht am Strand wohnt, so das wunderbare Wortspiel mit "Ozean" (ocean) und "Ahnung" (notion) zu Beginn des Songs, der hat davon keinen Schimmer - sonst würde er ja hierherziehen.

Jim Heimann sitzt auf einer Bank am Pier und sieht den Surfern dabei zu, wie sie ihre Bretter zum Ozean tragen oder an den Pfählen vorbeisausen. Dawn Patrol nennt man diese Surfer, die schon bei Sonnenaufgang an den Strand kommen. "Es ist weniger Sport als Lebenseinstellung", sagt Heimann, der "Right On" mit tiefenentspanntem "o" sagt: "Es ist der Aloha-Spirit aus Gutmütigkeit, Gleichmut und Gelassenheit." Individualismus pflegen, dabei aber die Gemeinschaft nicht vergessen. Die Welt und vor allem sich selbst nicht so arg ernst nehmen. Sich über jeden Tag freuen, an dem die Sonne aufgeht. Das ist Surfen, seit mehr als 4000 Jahren.

Surfing. 1778-2015Jim HeimannHardcover, in Leinen gebunden, mit Ausklappseite und Leseband, 29 x 39,5 cm, 592 Seiten

Die Sehnsucht nach der ganz großen Welle: Weimea Bay, Hawaii, 1966. Fotos entnommen aus: Jim Heimann: Surfing. Taschen Verlag Köln

Natürlich wurde es in Polynesien erfunden, auf Hawaii kultiviert und an vielen Orten wie Goals Coast (Australien), Jeffrey's Bay (Südafrika) und Hossegor (Frankreich) weiterentwickelt. Wer jedoch verstehen möchte, was dieses Lebensgefühl bedeutet, der muss morgens hierherkommen an einen der von den Beach Boys besungenen Strände von Santa Barbara bis San Diego: Pacific Palisades, Redondo Beach, Del Mar, La Jolla. Im Norden Kaliforniens, in San Francisco und im Silicon Valley, da wollen sie die Welt verändern. Hier im Süden finden sie die Welt in Ordnung, so wie sie ist.

Heimann ist Kulturanthropologe, er selbst bezeichnet sich als wild gewordenen Alles-Sammler, der mittlerweile Lagerhäuser braucht, um die Zündholzschachteln, Werbeanzeigen und Fotos legendärer Autos aufzubewahren, die er über die Jahre auf Flohmärkten zusammengetragen hat. Er hat Bücher über die Mode der 50er-Jahre veröffentlicht, über das Design von Speisekarten und verrückte Bauwerke am Straßenrand. Es wäre eine Untertreibung zu behaupten, dass Heimann nun ein Buch über die Geschichte des Surfens herausgegeben hat. Es ist eine Schatzkiste, 40 Zentimeter hoch, knapp 600 Seiten dick und sieben Kilogramm schwer (Jim Heimann: Surfing. Taschen Verlag, Köln, 150 Euro). Es ist ein Kunstwerk, weil die 900 Fotos nicht nur Surfer auf riesigen Wellen zeigen und die Texte nicht nur brav die Historie abarbeiten, sondern weil dieses Buch ein Lebensgefühl transportiert.

"Beim Surfen interagiert der Mensch derart intensiv mit der Natur wie bei nur sehr wenigen anderen Beschäftigungen", sagt Heimann: "Es geht jedoch noch viel weiter: Surfen beeinflusst Mode, Lifestyle, Sprache und nicht zuletzt Musik. Oder kennen Sie eine andere Sportart, über die es so viele Songs gibt?" Beim Surfen gibt es The Sandals, The Surfaris, die Surf Punks und viele andere, die Songs handeln von Sex und Drogen und Partys am Strand. Beim Fußball fallen einem erst einmal Lieder ein, die davon handeln, dass es gleich bumm macht und dann krachen wird oder dass es nur ein' Rudi Völler gibt.

Surfing. 1778-2015Jim HeimannHardcover, in Leinen gebunden, mit Ausklappseite und Leseband, 29 x 39,5 cm, 592 Seiten

Magazin-Cover von 1930: Frauen eroberten früh ihren Platz in der Szene.

(Foto: Jennifer New)

Auch wenn Surfen mittlerweile Wettkämpfe und Weltmeisterschaften kennt: Es geht nicht um höher und schneller und weiter, ums Gegner besiegen und Rekorde brechen - was einer der Gründe sein mag, warum die Sportart noch immer nicht olympisch ist. In vier Jahren in Tokio soll sie dabei sein, der Wettbewerb auf einer künstlich angelegten Welle stattfinden. Das ist ungefähr so, als würde man Fußball nur in der Tip-Kick-Version erlauben. Heimann rollt mit den Augen, als er von dieser Idee berichtet. Es geht beim Surfen nämlich erst einmal um überhaupt nichts. So hat es vor mehr als 4000 Jahren in Polynesien angefangen: Die Menschen haben sich auf Wellen an den Strand treiben lassen. Warum? Weil es ihnen Spaß machte. Right on!

Die Weisheiten des Big Kahuna: "Lass dir Zeit, die Welle kommt schon." Oder: "Der beste Surfer ist der, der am meisten Spaß hat."

Nach Kalifornien kam das Surfen - von christlichen Missionaren auf Hawaii übrigens zeitweise als verdammenswerter Müßiggang verboten - Anfang des 20. Jahrhunderts: Der Hawaiianer Duke Kahanamoku, ein formidabler Schwimmer mit fünf olympischen Medaillen, war der charismatische Botschafter, er sagte solch wunderbare Sätze wie: "Lass dir Zeit, die Welle kommt schon." Oder: "Der beste Surfer ist der, der am meisten Spaß hat." Kahanamoku war der Big Kahuna, der große Meister, das freundliche Gesicht eines Lifestyle, der später in den 1960er-Jahren ein Teil der Gegenkultur wurde.

In Zeiten mit Krieg, ermordeten Präsidenten und rassistischen Gewalttaten bot das Leben am Strand eine Alternative: Sonne, Sand, Surfen. Viele Surfbretter waren mit psychedelischen Motiven bemalt, oft war ein Peace-Zeichen oder der Spruch "Make Love, Not War" darauf zu sehen. Bilder von attraktiven Menschen am Strand mit Blumen im Haar, mit Surfbrett in der einen und Marihuana in der anderen Hand, das war ein krasser Kontrast zu dem, was in den Nachrichten lief.

Surfing. 1778-2015Jim HeimannHardcover, in Leinen gebunden, mit Ausklappseite und Leseband, 29 x 39,5 cm, 592 Seiten

Australiens Lebensretter verließen sich auf das Surfbrett. (Foto aus dem Jahr 1938)

"Es entwickelte sich eine entspannte Kultur, jedoch eine sehr exklusive", sagt Heimann, der im Los Angeles der 60er-Jahre aufwuchs und täglich am Strand war: "Du warst entweder voll dabei oder gar nicht." Fremde oder Andersdenkende wurden bisweilen noch nicht einmal geduldet. Wer das heute erleben möchte, der muss hinunterfahren nach Pacific Beach im Norden von San Diego und eine der Strandbars besuchen, die Don Winslow in seinem grandiosen Roman "The Dawn Patrol" beschreibt. Das Silver Fox etwa oder den Plum Crazy Saloon. Man sollte in diesen Kneipen sein Bier keinesfalls auf den falschen Typen schütten oder ihn möglichst schnell mit alkoholischen Getränken beruhigen - vor allem aber sollte man im Ozean diesen rauen Burschen, die durchaus stolz auf den Spitznamen Surf Nazi sind, nur ja nicht die Welle klauen.

Sie verteidigen ihr Revier wie Hunde, sie pinkeln dazu jedoch nicht in den Ozean, sondern schubsen Fremde einfach vom Board oder verjagen sie mit den Gebrauch der 100 schlimmsten Schimpfwörter der englischen Sprache. Hin und wieder verprügeln sie einen oder zerstechen einem die Autoreifen. "Es ist eine komische Dynamik: Einerseits bezeichnen sich Surfer gegenseitig als Brüder, andererseits darf man sich keinesfalls im Revier des anderen breitmachen", sagt Heimann: "Das ist seit den 60er-Jahren so, das gewaltsame Verteidigen des Territoriums ist allgemein akzeptiert."

Das Territorialverhalten ist die dunklere Seite des ansonsten relaxten Surferlebens, sie führt direkt zu einer anderen Beobachtung. "Sehen Sie mal genau nach, wer da surft", sagt Heimann und deutet vom Pier aus auf die Menschen im Wasser. Zu sehen sind blonde Haare, gebräunte Oberarme.

Na und?

Heimann fordert einen auf, mal zu überprüfen, was nicht zu sehen ist. Tatsächlich, es fehlt dunkle Haut. "Ich habe mehr als vier Jahre lang recherchiert und mehr als 7000 Fotos begutachtet, weil ich unbedingt einen schwarzen Surfer in diesem Buch haben wollte." In den 1940er-Jahren habe der afroamerikanische Schüler Nick Gabaldon regelmäßig in Santa Monika gesurft: "Ich habe jedoch kein Foto von ihm gefunden. 85 Prozent der Surfer sind noch immer weiße Männer, wirklich vielfältig ist dieser Sport nicht. Ich glaube, das hat noch immer mit diesem heftigen Stammesdenken zu tun, bei dem nur Einheimische auf dieser einen Welle surfen dürfen." Alle anderen, die sollen am besten nichts mitbekommen von diesem Lebensgefühl - sonst würden sie ja hierherziehen. Dann wäre es zu voll, im Dorf am Strand und auf der Welle im Ozean. Sie haben das Entspannte dann doch gerne für sich.

Historie: Surft selber nicht: Autor Jim Heimann.

Surft selber nicht: Autor Jim Heimann.

(Foto: Privat)

Wer heute am Strand wohnt, der wird schnell assimiliert von dieser Kultur - auch dann, wenn er gar nicht surft. "Es ist ein Unterschied, hier am Strand in ein Starbucks zu gehen oder ein paar Kilometer im Landesinneren. Es ist das gleiche Geschäft, doch die Stimmung ist anders", sagt Heimann: "Ich habe noch niemals in meinem Leben auf einem Surfbrett gestanden. Meine Eltern konnten sich kein Board leisten, also habe ich im Alter von zwölf Jahren mit dem Bodysurfen angefangen. Ich habe die Beach Boys getroffen,die sind ja hier aufgewachsen. Ich war bei den Partys dabei, ich trug die Klamotten - ohne jemals ein Surfbrett besessen zu haben."

Wer am Nachmittag an den Strand von Manhattan Beach kommt, der sieht nicht mehr nur Surfer, sondern auch alle anderen, die dieses Lebensgefühl auch ohne Surfbrett inhaliert haben. Sie spielen Beachvolleyball oder Beachfußball, sie laufen am Wasser entlang oder schwimmen von Pier zu Pier. Sie haben einen Ozean und auch eine Ahnung davon, was das Leben in Südkalifornien bedeutet. Immer locker bleiben, nur kein Stress. Right on!

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