Historie:Im Garten des Hasses

Der wieder aufgeflammte Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan um Berg-Karabach hat tiefe historische Wurzeln - und das Potenzial für eine große Krise.

Von Frank Nienhuysen

Neulich vor dem Kanzleramt war der ferne Karabach-Konflikt ganz nah: Hunderte Menschen schwenkten aserbaidschanische Fahnen - nicht etwa, weil der aserbaidschanische Präsident zu Besuch war. Es war der armenische Präsident gekommen. Einige hielten ein Transparent hoch, auf dem stand, "Stoppt die Besetzung von Berg-Karabach". Der armenische Gast Sersch Sargsjan hatte allerdings ganz andere Ansichten. Er nannte in Berlin den jüngsten Gewaltausbruch einen "bewaffneten Überfall" Aserbaidschans, der die Sicherheit in Europa bedrohe, und verlangte das Recht auf Selbstbestimmung für die Armenier in Berg-Karabach.

Moskau gilt als Schutzmacht Armeniens - und liefert Waffen auch nach Aserbaidschan

Im Juni dürfte Angela Merkel wieder das Gegenteil zu hören bekommen: Dann nämlich wird Aserbaidschans Staatschef Ilham Alijew in Berlin erwartet, der gerade erst in Baku erklärte: Sein Volk werde niemals erlauben, dass auf aserbaidschanischem Gebiet ein armenischer Staat entstehe. Von Kompromissen auf beiden Seiten, von Versöhnung gar also keine Spur. Der Konflikt um Berg-Karabach, das überwiegend von Armeniern bewohnt ist, aber völkerrechtlich zu Aserbaidschan gehört, ist neu und heftig entflammt, historisch und aktuell zugleich. Er verblasst zwar derzeit neben dem Bürgerkrieg in Syrien, der Flüchtlingskrise in Europa, dem Ukraine-Konflikt und dem drohenden Brexit, und doch besorgt die Auseinandersetzung Europa: Sie hat das Potenzial zu einem neuen großen Krisenherd. Demnächst beschäftigt er auch den Papst, der im Juni zunächst nach Armenien reist, im Herbst dann auch Aserbaidschan besuchen will.

Anfang April gab es den heftigsten Gewaltausbruch seit vielen Jahren. Mindestens 100 Menschen wurden getötet, bevor sich Armenien und Aserbaidschan auf eine Waffenruhe einigten. Aber es gab auch danach schon wieder Tote und Anschuldigungen aller Art. Internationale Reporter werden gewarnt, sich nicht von "armenischer Propaganda missbrauchen" zu lassen. Eriwan wiederum attackiert Baku, und auch die Kritik an Russland hat zugenommen. Vor der russischen Botschaft in Eriwan gab es Proteste, weil Moskau Waffen auch an Aserbaidschan verkauft, obwohl Russland doch militärisch als Schutzmacht von Armenien gilt. Moskaus Regierungschef Dmitrij Medwedjew wiederum rechtfertigte die Waffenlieferungen an beide Seiten mit dem Argument: Wenn Russland nicht liefere, würden eben andere Verkäufer diesen Platz einnehmen.

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Schulkinder in Armeekleidung im armenisch bewohnten Berg-Karabach: Das Trauma der Vergangenheit sitzt tief, und die Konfliktparteien zeigen keine Neigung zu Kompromissen.

(Foto: Meinrad Schade/laif)

Bliebe in dem Knäuel noch die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), die mit gerade einmal sechs Beobachtern die gefährliche, unübersichtliche Lage rund um Berg-Karabach betrachtet. Sie sucht nun, mit Deutschland als derzeitiger OSZE-Leitung, verstärkt nach einer politischen Lösung, die doch so schwer zu finden ist. Warum eigentlich?

Der Brockhaus beschreibt das von Armeniern bewohnte Berg-Karabach als 4400 Quadratkilometer großes Gebiet, das die "Ost-Abdachung des Kleinen Kaukasus umfasst", stark bewaldet, aber auch mit "halbwüstenartiger Vegetation". Und das ist auch schon fast alles, worauf sich die verfeindeten Lager einigen können. Drei Jahre dauerte, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, der Krieg zu Beginn der Neunzigerjahre, der mit einem Sieg der Armenier endete und der Besetzung aserbaidschanischer Gebiete - nach Angaben des deutschen Auswärtigen Amtes sind es etwa 17 Prozent des aserbaidschanischen Territoriums. 1994 wurde ein Waffenstillstand geschlossen, seitdem köchelt der Konflikt weiter. Offener Krieg ist es nicht mehr, aber Frieden ist es auch nicht.

Beide Seiten berufen sich auf heutiges Recht und auf uralte Ansprüche

Zwei Kernforderungen stehen einander entgegen. Armenien verlangt für die Bevölkerung von Berg-Karabach das Recht auf Selbstbestimmung. Aserbaidschan dagegen pocht auf das Völkerrecht. Unter anderem vier Resolutionen des UN-Sicherheitsrats haben bereits 1993 Aserbaidschan recht gegeben und den Abzug armenischer Truppen aus den besetzten Gebieten gefordert. Auf dem Papier scheint die Sache also klar zu sein. Im Kaukasus selber aber wird hart gefochten, mit Argumenten, mit Drohungen, immer wieder auch mit Waffen. Man muss weit in die Geschichte zurückgreifen, um die Wurzeln der jeweiligen Ansprüche zu orten. Eriwan hält das Gebiet von Berg-Karabach schon seit der Antike für armenisch besiedelt und die dortige Bevölkerung seit dem 4. Jahrhundert für christlich missioniert. Auch Aserbaidschan macht die Geschichte für sich geltend: Demnach gehörte Karabach einst zu einem Kaukasus-Albanien, das weitgehend dem heutigen Gebiet von Aserbaidschan entsprach. Im Lauf der Jahrhunderte gab es wechselnde Herrscher und Einflüsse - durch Türken, Perser, Russen - und immer wieder Phasen von Ansiedelungen, Flucht und Migration.

Die neuere Geschichte, auch sie Quelle des heutigen Konflikts, liegt auch schon wieder fast hundert Jahre zurück. Nach der Oktoberrevolution 1917 und dem Ende des Zarenreichs gab es ein paar Jahre, in denen Armenien und Aserbaidschan schon einmal unabhängig waren und sich in einen Krieg stürzten. Auch damals war Berg-Karabach ("der schwarze Garten") umkämpft. Kurz darauf etablierte sich die Sowjetmacht, die UdSSR entstand, die beiden Kaukasus-Länder wurden Teil des kommunistischen Imperiums - und Berg-Karabach mit einem Federstrich zu einem Autonomen Gebiet innerhalb der aserbaidschanischen Sowjetrepublik. Aserbaidschan fühlt sich darin bestätigt: Karabach gehört zu Aserbaidschan. Armenien dagegen hält die Entscheidung heute für einen Akt der Willkür. Die Ressentiments blieben bestehen, wurden durch die stramme Vielvölker-Ideologie der Sowjets aber gedeckelt.

Bergkarabach

SZ-Karte

Das änderte sich, als das gewaltige Sowjetreich während der Perestroika-Zeit in den Achtzigerjahren seinen inneren Halt verlor und in den Republiken der Nationalismus an Kraft gewann. 1988 brach blutig der Streit um Berg-Karabach aus, es war der erste heftige Nationalitätenkonflikt in der dahinsiechenden Sowjetunion.

Die regionale Führung von Karabach spürte, dass die Moskauer Zentralgewalt mit Gorbatschows Auffrischung des verkrusteten Sozialismus beschäftigt war, und sah im Schatten dieser epochalen Umwälzung ihre Chance: Sie wollte, dass Berg-Karabach Armenien zugeschlagen wird. Moskau lehnte ab. Proteste folgten auf beiden Seiten, die Lage verschärfte sich in Windeseile. Michail Gorbatschow, damals Kremlchef, erinnert sich in seinem Buch "Über mein Land", dass er die Bürger beider Republiken aufgerufen habe, "sie sollten das Schicksal ihrer Völker nicht in die Hände von Anarchie und blinder Leidenschaft legen. Es gelang mir aber nicht, eine Eskalation zu vermeiden." Aserbaidschaner wurden aus Karabach vertrieben, und in der Industriestadt Sumgait nahe Baku wütete der Mob: Mehrere Dutzend Armenier starben beim Massaker im Februar 1988, ein traumatisches Ereignis für Armenien, das die Gräben vertiefte. Im kollektiven Bewusstsein des christlichen Armeniens ist die Erinnerung an den Völkermord im Osmanischen Reich 1915 stets präsent und aus dem Verhältnis zu den benachbarten muslimischen Turkvölkern wie den Aserbaidschanern nicht wegzudenken.

1991 erklärte sich Berg-Karabach für unabhängig, das aserbaidschanische Parlament wiederum strich dem abtrünnigen Gebiet den Autonomiestatus. In den Wirren des auseinanderfallenden Sowjetimperiums wurde aus dem Konflikt ein Krieg zweier unabhängiger Staaten: Armenien und Aserbaidschan. Die Schätzungen der Toten variieren zwischen 25 000 und 30 000, die International Crisis Group spricht von mehr als 720 000 aserbaidschanischen Flüchtlingen, und etwa 410 000 armenischen.

Seit diesem Krieg hat auch Aserbaidschan sein Trauma: das Massaker von Chodschali, bei dem nach Angaben von Human Rights Watch im Februar 1992 einige Hundert Aserbaidschaner starben. Hinzu kommen der praktische Verlust von Berg-Karabach sowie weiterer sieben angrenzender Regionen, die vollständig oder teilweise von Armeniern kontrolliert werden. Aserbaidschan fordert sie zurück, Armenien sieht in diesen Gebieten einen Sicherheitspuffer für den Fall, dass das inzwischen hochgerüstete Aserbaidschan den Konflikt militärisch entscheiden will. Und eine Art Faustpfand bei internationalen Verhandlungen, die sich nun schon zwei Jahrzehnte zäh hinziehen. Der starke Nationalismus in beiden Ländern lässt für Kompromisse kaum Spielraum. Die Bevölkerung von Berg-Karabach und auch von Armenien leben zu einem großen Teil von den Spenden der Exil-Armenier in der ganzen Welt. Als der frühere Staatschef Lewon Ter-Petrosjan einst einen Vorschlag der OSZE unterstützen wollte, musste er zurücktreten. Ähnliche Konzilianz ist vom amtierenden Präsidenten Sargsjan weniger zu erwarten: Er wurde in der Hauptstadt von Berg-Karabach geboren.

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